Für Verhandlungen stimmten 362 Delegierte, 279 dagegen. Diese Verhandlungen über eine Neuauflage der grossen Koalition (GroKo) aus SPD, CDU und CSU können in den nächsten Tagen beginnen und im besten Fall im Februar abgeschlossen werden. Danach muss aber noch eine hohe Hürde überwunden werden: Die mehr als 440'000 SPD-Mitglieder stimmen über den Koalitionsvertrag ab und haben damit das letzte Wort.
Martin Schulz wirbt for GroKo
Parteichef Martin Schulz hatte in einer kämpferischen Rede für eine grosse Koalition geworben. Kurz vor der Abstimmung trat er nochmals ans Rednerpult und sprach von einem «Schlüsselmoment» in der Geschichte der SPD. «Ich glaube, dass die Republik in diesem Moment auf uns schaut», sagte er. «Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.»
Schulz' schärfster Widersacher Kevin Kühnert hatte an die Genossen appelliert, trotz weitreichender Folgen nicht vor einem Nein zurückzuschrecken. Der Leitspruch des Juso-Chefs für die Abstimmung: «Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.» Damit spielte er auf eine Aussage des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Jusos einen «Zwergenaufstand» vorgeworfen hatte.
Die Befürworter von Verhandlungen in der mehr als vierstündigen Debatte kamen überwiegend aus der Parteiführung. Fast alle prominenten Sozialdemokraten sind für eine grosse Koalition.
Die leidenschaftlichste Rede hielt SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, Die Bürger würden der SPD einen Vogel zeigen, wenn sie sich trotz guter Sondierungsergebnisse für eine Neuwahl entscheide, sagte sie. In den Koalitionsverhandlungen könne noch mehr für die SPD herausgeholt werden. «Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.» Nahles bekam für ihre kurze Ansprache deutlich mehr Beifall als Schulz, der eine Stunde redete.
GroKo-Gegner
Aber auch Groko-Gegner erhielten für ihre Beiträge stets lautstarken Applaus. Juso-Chef Kühnert warb für einen Neuanfang in der Opposition. Die Auffassung, «eigentlich wollen wir ja nicht, aber wir müssen doch», führe in eine «Endlosschleife, in der wir seit so vielen Jahren drin sind». Auch die Parteilinke Hilde Mattheis warnte: «Wir gehen aus jeder grossen Koalition schwächer raus.»
Für den Fall von formellen Gesprächen mit der Union versprach Schulz weitere Verhandlungserfolge der SPD. Unter anderem in der Gesundheitspolitik seien Ergänzungen des Sondierungspapiers nötig.
«Wir werden konkrete Massnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin verlangen – und wir werden sie durchsetzen», sagte er. Gemeint ist die unterschiedliche Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten. Zudem müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Als dritten Punkt versprach Schulz eine wirksame Härtefallregel für den Familiennachzug von Flüchtlingen.
Diese drei Punkte hatte die SPD-Parteiführung auf Druck vor allem des einflussreichen Landesverbandes Nordrhein-Westfalen in ihren Leitantrag aufgenommen.
Regierungskrise dauert an
Die Parteispitze hatte diese drei Forderungen in ihren Antrag für die Parteitagsabstimmung eingebaut. Damit gibt es reichlich Zündstoff für die Verhandlungen mit der Union. Denn CDU und CSU sind strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Januar verständigt hatten.
Schon jetzt dauert die Regierungsbildung so lange wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Erst scheiterten im November die wochenlangen Sondierungsgespräche über eine so genannte Jamaika-Koalition an der FDP. Zu den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD kam es erst nach einer Kehrtwende von Schulz, der sich ursprünglich auf die Oppositionsrolle festgelegt hatte.
Hätte die SPD mit Nein gestimmt wären nur eine Minderheitsregierung, eine Rückkehr zu den Verhandlungen über eine «Jamaika»-Koalition oder eine Neuwahl möglich gewesen.
Mit dem Votum verhinderten die Delegierten auch den Sturz der SPD in eine tiefe Krise. Für den Fall eines Neins war mit dem Rücktritt von Schulz gerechnet worden. Vor dem Parteitag war die SPD in den Umfragen bis auf 18 Prozent abgesackt.
Noch am Sonntagabend wollten die Spitzengremien von CDU und CSU über das weitere Vorgehen beraten. Rechnet man den Wahlkampf dazu, agiert die Bundesregierung seit einem Jahr nur noch mit angezogener Handbremse. Seit drei Monaten ist sie lediglich geschäftsführend im Amt.
Brüssel reagierte erleichtert: Der französische EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici begrüsste im Kurzbotschaftendienst Twitter «das Verantwortungsbewusstsein der SPD».