Der Hass war schon da. Jetzt ist er das Streichholz, an dem sich das Feuer entzündet. In Chemnitz wurde der Deutsch-Kubaner Daniel H. (35) getötet. Nachts, mit einem Klappmesser, vermutlich von Asylbewerbern. Was folgte, waren rechtsextreme Ausschreitungen.
Seither kommt die sächsische Stadt nicht zur Ruhe. Und nicht nur sie. Der Strudel hat ganz Deutschland erfasst. Die Grosse Koalition taumelt.
Einen Monat nach der Tat wird deutlich: Chemnitz ist ein Fanal. Für die Umsturzfantasien von Rechtsextremen, aber auch für die Sehnsucht von bürgerlich-konservativen Politikern und Publizisten nach Disruption. Sie befeuern die Anti-Merkel-Bewegung am rechten Rand, wittern die Chance, das träge gewordene Parteiensystem aufzubrechen.
«Start des Bürgerkriegs gegen den Islam»
Klar: Rechtsextreme Aufmärsche sind in Ostdeutschland nichts Neues. Schon gar nicht in der sächsischen Provinz, wo rhetorische Grenzüberschreitungen und rechte Jugendkultur längst Alltag sind. Und doch ist diesmal vieles anders. Wir erleben, wie sich das politische Koordinatensystem verschiebt. In rasantem Tempo. Nach rechts aussen. Kippen wird Deutschland deswegen nicht, wie es die teils hysterischen Kommentatoren grosser Medienhäuser kurz nach der Neonazi-Randale prophezeiten. Eine Zeitenwende ist es aber allemal.
Für Neonazis sind die Ereignisse ein Erweckungserlebnis. In Internetforen feiern sie den «Beginn des Aufstandes», schreiben vom «Start des Bürgerkriegs gegen den Islam». User mit Pseudonymen wie «Rassenhass» oder «Deutschland erwache», rufen dort offen zu Angriffen auf Migranten und Linke auf. Folge: Die Zahl der rechtsextremen Übergriffe hat im ganzen Land zugenommen.
27. August, München: Rechte Schläger zerren drei türkischstämmige Männer aus einem Porsche, rufen «Scheisskanaken!» und treten ihren wehrlosen Opfern mehrmals gegen den Kopf.
Taten wie diese geschehen im Schnitt alle paar Stunden. Oft jedoch berichten nur die Lokalzeitungen darüber. Randnotizen.
Die AfD auf der Jagd
Dass die Rechtsextremen erstarken, hat auch mit der Alternative für Deutschland (AfD) zu tun. Seit Jahren rüstet die Rechtspartei rhetorisch auf. Nach der Bundestagswahl 2017 sagte ihr Spitzenkandidat Alexander Gauland: «Wir werden sie jagen.» Und meinte damit nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern alle Andersdenkenden. Jetzt schreiten einige seiner Anhänger zur Tat.
29. August, Wismar: Drei Männer beschimpfen einen 20-jährigen Syrer, schlagen ihn mit einer Eisenkette. Als er am Boden liegt, treten sie ihm ins Gesicht.
Neu ist: Seit Chemnitz grenzt sich die AfD nicht mehr von dem gewaltbereiten Pöbel ab, der in den Strassen tobt. Im Gegenteil: Die Partei sucht aktiv den Schulterschluss, marschiert gemeinsam mit militanten Kameradschaften, der rassistischen Sammlungsbewegung Pegida und Hooligans. Chemnitz ist der Kitt, der die Fremdenfeinde eint.
Laut einer aktuellen Umfrage billigt jeder dritte AfD-Sympathisant Drohungen und Attacken gegen Ausländer. Erstmals liegt die Partei im Wahlbarometer an zweiter Stelle hinter der CDU. Verständnis für die rechte Randale bekunden aber auch unverdächtige Politiker. Innenminister Horst Seehofer (CSU) sagt: «Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Strasse gegangen.» Eine Aussage, die bewusst zündelt. Andere gehen noch weiter. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) behauptete nach tagelangen Ausschreitungen: «Es gab keinen Mob.»
29. August, Thüringen: In Sondershausen attackieren vier Rechtsextreme einen 33-jährigen Eritreer. Sie schlagen und treten ihn gegen den Kopf, er wird schwer verletzt.
Schweizer Medien leisten Schützenhilfe
Die Rechtsversteher und Deutungsverdreher agieren auch in Schweizer Medien. In der NZZ interpretierte der in Sachsen-Anhalt geborene Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai die Aufmärsche in Chemnitz mit dem «Wunsch der Ostdeutschen nach einem einigen und demokratischen Deutschland». Als «Gegenentwurf» zum «westdeutschen Juste-Milieu». Mais Fazit: Der «ostdeutsche Plebejer» wird Deutschland die «Erlösung» bringen. Neusprech im orwellschen Sinn, die in unserem Nachbarland hervorragend ankommt. Laut NZZ-Sprecherin Seta Thakur stammen 70 Prozent der Klicks auf den Onlineartikel aus Deutschland.
Als Schallverstärker dient den Fremdenfeinden auch «Weltwoche»-Chef und SVP-Nationalrat Roger Köppel. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter feiert er die rechten Proteste: «Die aufmüpfigen Ostdeutschen gehen für Freiheit und Demokratie auf die Strassen.» Die wiederum feiern Köppel mit Hunderten Retweets.
Einen Tag vor der Köppel-Aussage brüllten die «aufmüpfigen Ostdeutschen» ihre Parolen für «Freiheit und Demokratie» bei einem Marsch in der Kleinstadt Köthen in die Nacht: «Nationaler Sozialismus! Jetzt! Jetzt! Jetzt!»
8. September, Baden-Württemberg: Ein Dutzend Rechtsextreme, darunter ein Polizist, überfallen eine türkische Gelateria in Wiesloch. Sie zeigen den Hitler-Gruss, schreien «Heil Hitler!» und verletzen fünf Besucher.
12. September, Chemnitz: 15 Rechtsextreme patrouillieren durch die Strassen, kontrollieren die Ausweise von Passanten. Als ein Iraner seinen Pass zeigt, prügeln sie auf ihn ein.
15. September, Hasselfelde: Rechte prügeln einen 17-jährigen Afghanen krankenhausreif. Nur Stunden später verletzen betrunkene Rassisten in Halberstadt drei somalische Asylbewerber.
Rechtsextreme vor dem Marsch auf Berlin
Am Dienstag musste Hans-Georg Maassen sein Amt als Verfassungsschutz-Chef abgeben. Unklar bleibt, welchen Posten er in Zukunft übernehmen wird. Zum Verhängnis geworden war ihm die faktenfreie Behauptung, ein Video von Hetzjagden auf Migranten könnte gefälscht sein, ein linkes Ablenkungsmanöver. Auch Maassen gebärdete sich nach Chemnitz mehr als rechter Verschwörer denn als Spitzenbeamter. Dass er es mit seinen Aussagen schaffen könnte, die Grosse Koalition zu sprengen, verdeutlicht, wie dünn die innenpolitische Stabilität schon geworden ist.
18. September, Zürich: Roger Köppel twittert: «Man köpft einen Geheimdienstchef, weil er sagt, was die Regierung nicht hören will. Ist das noch eine Demokratie?»
Chemnitz war das Fanal. Nun rufen die Rechtsextremen zum Marsch auf Berlin. Am 9. November wollen sie dort einen «Trauermarsch für die Opfer von Politik» abhalten. Der 9. November – ein Schicksalstag für die Deutschen. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Und am 9. November jähren sich zum 80. Mal die Angriffe der Nazis auf jüdische Bürger und Geschäfte – die Reichspogromnacht.