Die Grünen-Fraktionsführung will darüber beraten, wie sie damit umgehen werde, dass die drei verbleibenden Atomkraftwerke nach dem Willen von Olaf Scholz (SPD) bis Mitte April 2023 weiterlaufen können sollen. Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin kritisierte Scholz' Entscheidung, die Grüne Jugend reagierte entrüstet. «Das ist Basta-Politik, und die brauchen wir nicht», sagte der Co-Chef der Grünen-Nachwuchsorganisation, Timon Dzienus, der Deutschen Presse-Agentur. Nötig sei eine Debatte im Bundestag zu dem Thema.
Scholz hatte am Montag einen tagelangen Streit innerhalb der Ampel-Koalition insbesondere zwischen den Grünen und der FDP mit einer klaren Ansage für beendet erklärt. Der Kanzler wies die zuständigen Minister an, Gesetzesvorschläge zu machen, damit die drei Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland über das Jahresende hinaus maximal bis zum 15. April 2023 weiterlaufen können. Scholz machte damit von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Demnach bestimmt der Kanzler «die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung».
«Die Entscheidung ist fachlich nicht gerechtfertigt, sie ist nicht durch den Stresstest gedeckt, sie ist politisch ausserordentlich fragwürdig», sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Trittin dem ZDF. «Das wird glaube ich noch eine ganz schwierige Operation.»
Angesichts der Misstöne appellierte Habeck an das Verantwortungsbewusstsein seiner Partei. Danach gefragt, ob er es für denkbar halte, dass die Grünen-Fraktion Scholz im Bundestag die Unterstützung seiner Entscheidung versagen könnte, sagte Habeck, er glaube nicht, dass es dazu komme. «Weil das Land, Europa sich ja in einer schweren Krise befindet und in dieser Situation dann die Regierung aufs Spiel zu setzen, scheint mir überhaupt nicht verhältnismässig zu sein», sagte er in der ARD.
Zugleich wies Habeck darauf hin, dass es sich beim Thema Atom um eine politisch «hochaufgeladene Frage» handele. «Diese Frage hat Generationen geprägt, hat die deutsche Politik geprägt, und insofern ist das schon eine Ausnahmesituation.» Scholz habe in der «verfahrenen Situation» nun einen Vorschlag gemacht, «mit dem ich arbeiten kann, mit dem ich leben kann», sagte Habeck. «Wir mussten da irgendwie rauskommen», fügte er mit Blick auf Streit hinzu.
Die Vorsitzenden der Grünen wiesen daraufhin, dass mit der Entscheidung ein Hauptanliegen der Partei erfüllt wird: dass keine neuen Brennstäbe beschafft werden und letztlich alle deutschen AKW vom Netz gehen werden. Das AKW Emsland sei für die Netzstabilität aber nicht erforderlich, sagte die Co-Vorsitzende Ricarda Lang der dpa. «Entsprechend halten wir den Weiterbetrieb für nicht notwendig.» Ähnlich äusserte sich Co-Chef Omid Nouripour auf Twitter.
Die Grünen hatten am Wochenende auf einem Parteitag beschlossen, nötigenfalls einen - von Habeck vorgeschlagenen - sogenannten Streckbetrieb für die Meiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis Mitte April 2023 mitzutragen. Die FDP hatte gefordert, auch das dritte Atomkraftwerk Emsland am Netz zu halten und alle drei Meiler bis ins Jahr 2024 hinein laufen zu lassen. Gegebenenfalls sollten bereits stillgelegte AKW reaktiviert werden.
Die Partei von Finanzminister Christian Lindner begrüsste den Beschluss des Kanzlers - obwohl er auch hinter ihren Forderungen zurückblieb. Der energiepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Michael Kruse, verbuchte die Entscheidung als Unterstützung für seine Partei. «Das Verhandlungsergebnis zeigt, dass sich gut begründete Positionen durchsetzen.» Er erwartete als Folge auch sinkende Preise, weil das Signal gesendet werde, dass mehr Strom zur Verfügung stehen werde.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch kanzelte die Entscheidung von Scholz als «absurdes Schmierentheater» ab. «Nach der Wahl in Niedersachsen und nach dem Bundesparteitag der Grünen kommt diese Entscheidung. Hier ging es weder um die Bürger, noch um die Versorgungssicherheit, sondern ausschliesslich um die Egos von Habeck und Lindner», sagte Bartsch den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag).
Auch bei der Union erntete Scholz für seinen Vorstoss Kritik. Seine Entscheidung sei kein Machtwort, sondern ein «Zeichen von Schwäche», teilte die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Julia Klöckner, mit. «Die Bürger und Unternehmen warten auf echte Entlastung, die nur durch ein Mehr an Energie erreicht werden kann.»
(SDA)