Der neue starke Mann der SPD ist nicht etwa Schweiz-Schreck Norbert Walter-Borjans (67). Der Mann, der mit dem Kauf von neun Steuer-CDs dem Schweizer Bankgeheimnis den Todesstoss versetzte, wird zwar neuer Parteichef. Doch dass er sich gemeinsam mit Saskia Esken (58) durchgesetzt hat, ist vor allem ein Sieg für Juso-Chef Kevin Kühnert.
Der 30-jährige Berliner führt seit zwei Jahren den Parteinachwuchs, gerade hat er sich mit einem Rekordergebnis wiederwählen lassen. Lange wurde der ehemalige Schülersprecher belächelt: weil er lieber Kapuzenpullover als Anzug trägt, sein Studium abgebrochen hat und auch mal über seine homosexuellen Tinder-Abenteuer plaudert.
Parteichef wollte er nicht werden
Doch der bekennende Sozialist treibt die SPD seit Monaten mit rhetorischer Brillanz und radikalen Forderungen vor sich her. Er ist Gegner der Grossen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (65) – und hat sich für das koalitionskritische Spitzenduo Walter-Borjans/Esken ausgesprochen. Dessen Erfolg ist sein bislang grösster Sieg. «Endlich wieder eine SPD, vor der die Richtigen wieder Angst haben», twitterte er über die Reaktionen bürgerlicher Schweizer Politiker, die die Wahl von Schweiz-Schreck Norbert Walter-Borjans kritisierten.
Auch Kühnert war als Parteichef im Gespräch. Er hat sich aus guten Gründen dagegen entschieden. Denn der SPD-Parteivorsitz ist längst kein krisensicherer Job mehr. Lange sahen die Amtszeiten so aus: Willy Brandt, 23 Jahre; Gerhard Schröder, 5 Jahre; Sigmar Gabriel, 8 Jahre.
Dann kam der Bundestags-Wahlkampf 2017 und mit ihm der unglückselige Kanzlerkandidat Martin Schulz (63). Der Schulz-Zug fuhr ab – und mit ihm das Selbstvertrauen der Genossen. Gerade mal noch mickrige 20,5 Prozent erhielt die einst stolze Partei. Auf Schulz folgte «Trümmerfrau» Andrea Nahles (49). Doch auch sie konnte die angeschlagene Partei nicht mehr aufbauen. Nur 14 Monate nach ihrer Wahl trat sie zurück, seither führte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (58) die älteste Partei Deutschlands interimsmässig.
Kühnert hat höhere Ambitionen
Der zum Schleudersitz gewordene Parteivorstand soll nun erstmals von einer Doppelspitze geführt werden. Doch das Votum der rund 425'000 SPD-Mitglieder fiel deutlich für das koalitionskritische Duo aus. Und das wird ausführen, was Kevin Kühnert ohnehin will: Nachverhandlungen des Koalitionsvertrags – wenn nicht sogar mehr.
Formal muss die neue SPD-Spitze beim Parteitag am Wochenende noch bestätigt werden. Kühnert will sich für einen Beisitzerposten bewerben. Das höchste Parteiamt hat für ihn noch etwas Zeit. Schliesslich wird der Parteichef in aller Regel automatisch auch Kanzlerkandidat – und fällt die Groko auseinander, könnte eine Neuwahl schneller kommen als Kühnerts 31. Geburtstag.