Elf Jahre bevor Chérif Kouachi in Paris den Abzug drückte und gemeinsam mit seinem Bruder Saïd ein Massaker in den Redaktionsräumen von «Charlie Hebdo» anrichtete, lag kein Maschinengewehr in seiner Hand, sondern ein Mikrofon. Chérif wollte Rap-Star werden.
Erst Rap, dann militanter Islamismus: Kouachi ist nicht der erste Hip-Hopper, der in den Dschihad zog. Ein anderes Beispiel: Abdel-Majed Abdel Bary. Er wuchs in London auf, begann in seiner Jugend als «L Jinny» über das Leben in der «Kriegszone» zu rappen, über Drogen, Polizeigewalt, Armut. Dann radikalisierte er sich. 2014 hielt er in Syrien den abgetrennten Kopf eines Assad-Soldaten in die Kamera. Oder Douglas McCain – auch er ging nach Syrien. Lange galt seine Leidenschaft Basketball und Rap. 2014 starb er als vermutlich erster US-Amerikaner im Nahen Osten für den Islamischen Staat (IS).
Armut und Terror hängen nicht zusammen
Für dieselbe Organisation kämpft Abu Talha al-Almani – und hetzt auf Youtube. Als Denis Cuspert wuchs er in Berlin auf, wo Gewalt und Drogen sein Leben bestimmten. Als «Deso Dogg» rappte er über eine Welt, in der man kein Mann ist, «wenn man nicht im Knast war» – bis er sich von ihr und der «teuflischen Demokratie» abwandte.
Ist Sprechgesang mit fettem Beat guter Nährboden für islamistischen Terrorismus? Nein, auch wenn der Befund auf den ersten Blick eindeutig scheint. Kouachi stammt aus der Pariser Banlieue, Cuspert aus dem armen Berlin-Kreuzberg, Abdel Bary rappte über das Leben in einer Sozialwohnung. Laut dem «Global Terrorism Index 2014» hängen Terrorismus und Armut statistisch aber nicht stark zusammen. Bedeutsamer für das Entstehen von Terrorismus seien politische Instabilität, bröckelnde Gruppenbindung in einer Gesellschaft und die fehlende Legitimität des Staats.
Rap ist Ausdruck von Frust
In einem ähnlichen Milieu wachsen viele Rapper auf. Und auch die Themen, die sie vorwärtstreiben, spiegeln das. Ein Gefühl der Unsicherheit, der Vertrauensverlust in den Staat als Fürsorger und Ordnungswahrer. Aber auch gewaltsame Konflikte zwischen Gangs oder Bevölkerungsgruppen. In Ausnahmefällen kommen die Welten zusammen.
Der Hip-Hop entstand in den 1980er-Jahren in den Ghettos der USA. Er war ein Ventil der schwarzen Unterschicht, um die erlebte Gewalt und Diskriminierung loszuwerden. Rap lebt in heruntergekommenen Vierteln, in den Banlieues französischer Städte, wo auch Attentäter Kouachi aufwuchs. Dort, wo die Integrationspolitik scheitert – auf der Kehrseite westlicher Wirtschafts- und Sozialsysteme. Rap ist Ausdruck von Frust.
Der renommierte Terrorismusforscher Peter Neumann glaubt, dass «ein gewisser Unmut» Grundbaustein des IS ist. Eine Ideologie könne Frust in etwas Sinnhaftes verwandeln. Der Islam, «der ein klares System bereitstellt», biete sich genau dafür an, sagte Neumann in einem Interview mit dem deutschen Magazin «Cicero».
Das lässt sich anschaulich am Beispiel von Bertrand Nzohabonayo nachvollziehen, der letzten Dezember im zentralfranzösischen Joué-lès-Tours auf drei Polizisten einstach und dabei «Allahu Akbar» (Gott ist am grössten) rief. Sein Vater war Staatssekretär in Burundi, in Frankreich aber arbeitslos. Der soziale Abstieg der Familie war tief.
Auch Nzohabonayo war Rapper – ein talentierter sogar, sagte sein Vater der Zeitung «Libération». Sein Sohn hielt die Musik jedoch irgendwann für unvereinbar mit dem Islam. Auch der Berliner Cuspert hält heute Musik für «hundert Prozent haram» – für Muslime also komplett verboten. Für einen Rapper eine Sinnentleerung, die er mit Suren und Hadithen füllen kann. Das vorherige Leben wird abgelehnt – und danach als Beweis für den Verfall «des Westens» interpretiert.
Was die so unterschiedlichen Lebenskonzepte auch verbindet: Sowohl Hip-Hop als auch der radikal-islamische Salafismus, auf den sich der IS beruft, sind auf ihre Weise Gegenkulturen zur Mehrheitsgesellschaft. Terrorismusforscher Neumann nennt sie einen «Anti-Mainstream».
Rap-Lyrics sind in den USA als Beweismittel nicht zugelassen
Allerdings gibt es andere subkulturelle Gegenentwürfe, die offenbar weniger Anknüpfungspunkte zum militanten Islamismus haben. Fälle von Hardcore- oder Metal-Musikern, die in den Dschihad zogen, wurde bisher kein einziger öffentlich. Gewöhnlich ist diese tendenziell linke Musik ein Ober- oder zumindest Mittelschichtenphänomen. Ausgrenzung ist hier Fehlanzeige.
Textlich sind Metal und Hardcore keineswegs friedlich – jedoch absurder oder metaphorisch aggressiver als Hip-Hop. Der fokussiere sich ähnlich wie der militante Islamismus auf Gewalt als Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, schreibt der ehemalige Reuters-Nahost-Korrespondent Amil Khan. Sicher ist: Musik bleibt Kunst. In den USA sind Rap-Lyrics denn auch nicht als Beweismittel in Gerichtsprozessen zulässig. Liest man jedoch die Texte von «L Jinny» über durchtrennte Hälse, wird der Wirklichkeitsbezug deutlich. Experten gehen davon aus, dass er der Geisel James Foley die Kehle durchschnitt. Nicht einmal ein Jahr nach seinem letzten Musik-Video.