Dieses Urteil verdutzt die Schweiz, ja den ganzen Kontinent. Am Dienstag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Eidgenosschenschaft verurteilt. Das Verdikt gilt schon jetzt als historisch. Die Siegerinnen sind die sogenannten Klimaseniorinnen, ein Verein von rund 2500 Frauen, organisiert und mitfinanziert von der Umweltorganisation Greenpeace. Nach dem Urteil steht besonders Andreas Zünd (67) im Visier. Er ist als Nachfolger von Helen Keller (59) seit 2021 der Schweizer Richter am Menschenrechtsgerichtshof.
Zünd gehört zu den 17 Richtern, die gegen die Schweiz entschieden. Wie kann er nur? Fragt sich halb Helvetien. Zünd, SP-Mitglied und ehemaliger Bundesrichter, polarisiert. «Niemand verurteilt die Schweiz zuverlässiger als er», schrieb die «NZZ» im Februar. Blick hat den streitbaren Juristen am Donnerstag zum Gespräch empfangen. Und einen Mann von sanfter Erscheinung angetroffen, ruhig und überlegt redend – aber entschieden und unbeugsam in der Sache.
Blick: Herr Zünd, wie fühlt man sich als Aktivist?
Andreas Zünd: Wie kommen Sie darauf?
Diese Eigenschaft schreiben Ihnen gerade viele Schweizer Landsleute zu.
Das ist keine inhaltliche Aussage, sondern ein simpler Angriff. Dieser Begriff wird verwendet, um Richterinnen und Richter zu diskreditieren, die die Rechte der Menschen ernst nehmen. Darum perlt so was an mir ab.
Heisst das, die Schweizer Justiz nimmt die Rechte der Bürger nicht ernst?
Der Verein Klimaseniorinnen hat sich 2016 an die Landesregierung gewendet und moniert, dass das CO2-Gesetz in der Schweiz nicht oder zu wenig angewendet werde. Das Departement ging nicht darauf ein. Die Behörde sagte: Wir befassen uns nicht inhaltlich mit diesem Vorwurf. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht machten es gleich. Das EMGR hat die Vorwürfe ernst genommen.
Meinen Sie im Gegensatz zur Schweiz?
In dem Fall: ja. Auch wenn die Schweizer Justiz im allgemeinen gut funktioniert. Es kann vorkommen, dass Menschen, die für ihre Rechte kämpfen, nicht hinreichend ernst genommen werden. Das kann eine Verletzung des Artikels 6 der Menschenrechtskonvention sein, also dem Recht auf ein faires Verfahren. Hier ist es so, dass der Zugang zum Gericht in einem Streit über geltendes schweizerisches Recht nicht gewährt worden ist.
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Sie rügen Entscheide von demokratisch legitimierten Behörden als Menschenrechtsverstösse. Das ist schwer verständlich.
Behörden sind demokratisch legitimiert, Entscheidungen zu fällen – sofern sie nicht dem Recht widersprechen. Hier ist das schweizerische CO2-Gesetz nicht eingehalten worden. Und auch die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen sind nicht rechtzeitig und hinreichend umgesetzt worden. Das ist eine Verletzung eines Staatsvertrags, den die Bundesversammlung genehmigt und der Bundesrat ratifiziert hat. Also kann man nicht sagen, dass der EGMR gegen den schweizerisch-demokratischen Gesetzgeber entschieden hätte. Vielmehr umgekehrt: Der EGMR sagt, dass demokratisch beschlossenes Recht einzuhalten ist.
Und als Zeugen dazu dienen Klimawissenschaftler, die sehr allgemein sagen, dass die Schweiz auch ihren Beitrag zum globalen CO2-Ausstoss leiste. Aber wenn eine Seniorin im Sommer Mühe mit Schlafen hat, fragt man sich: Wo ist die Beweisführung, dass die Schweizer Gesetzgebung direkt dafür verantwortlich ist? Mit Verlaub, aber das findet sich im Urteil nirgends.
Zunächst einmal: Die Opferstellung der einzelnen Individuen hat der Gerichtshof gerade nicht anerkannt, sondern nur jene der Vereinigung. Von der Klimaveränderung werden viele Leute betroffen sein – wir alle. Der EGMR geht davon aus, dass solche Organisationen stellvertretend für all die betroffenen Menschen stehen. Aber nicht einzelne Personen, die in ihrer Gesundheit in dem Mass beeinträchtigt sind, wie Sie es jetzt gesagt haben.
Für den globalen CO2-Ausstoss sind alle Länder verantwortlich. Jetzt ist die Schweiz dran glauben müssen. Hätte jemand Frankreich oder Spanien verklagt, wären andere am Pranger. Das wirkt willkürlich.
Dieses Urteil hat die Schweiz im Titel. Aber gemeint sind alle Europaratsstaaten, die genau das machen müssen, was die Schweiz auch muss. Das Urteil des Gerichtshofs ist verbindlich für das Land, das es betrifft. Es interpretiert Recht auf Privatleben und wendet es auf den Klimawandel an. Diese Interpretation muss auch von den anderen Mitgliedstaaten beachtet werden. Die Schweiz hat insofern einfach den Lead, aber das Urteil betrifft alle.
Im schriftlichen Urteil kommt der Begriff «direkte Demokratie» ganze zweimal vor. Glauben Sie, dass Ihre Richterkollegen genug Bescheid über das politische System der Schweiz wissen?
Die primäre Funktion des nationalen Richters ist es, solche nationalen Eigenheiten, die andere vielleicht nicht kennen, im Gremium mitzuteilen. Und Sie können versichert sein, dass ich das gemacht habe.
Von den 17 Richterinnen und Richtern hat beim entscheidenden Punkt nur der Brite dagegen gestimmt. Hat er Ihnen als Einziger nicht zugehört oder als Einziger sehr gut zugehört?
Die Verletzung von Artikel 6, also dem fehlenden Zugang zu den Schweizer Gerichten, ist einstimmig erfolgt. Das hat auch der Kollege Eicke so gesehen. Hingegen ist er nicht mit der substanziellen Verletzung einverstanden gewesen …
… des Artikels 8, Recht auf Privatleben.
Er hat die Materie mehr prozessual als inhaltlich betrachtet. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich kann nicht die Auffassung meines Kollegen kommentieren.
Völkerrechtsprofessor Andreas Müller sagte in den Tamedia-Zeitungen, der EGMR habe die Grenze zwischen Recht und Politik «ein Stück weit verschoben». Man kann auch sagen: Sie haben die Grenze der Gewaltenteilung überschritten.
Herr Müller hat primär gesagt, dass es kein politisches Urteil ist. Wichtiger: Man muss hier sehr präzise sein. Wenn Rechte verletzt werden, müssen Richter einschreiten. Das ist normales justizielles Handeln. Lassen Sie mich dazu noch etwas erklären.
Bitte.
Es gibt negative Pflichten und positive Pflichten. Sie haben etwa Verpflichtungen, etwas nicht zu tun, wie zum Beispiel, ihre Mitmenschen nicht zu töten oder sie zu schädigen. Aber es gibt auch positive Pflichten: Der Staat hat die positive Verpflichtung, Leben und Gesundheit der Bürger zu schützen. Auch das Nichthandeln kann eine Rechtsverletzung sein. Das bleibt Recht und ist nicht Politik.
Mit Ihrem Urteil zwingen Sie die Schweiz zu Massnahmen, um die Pariser Klimaziele rascher zu erreichen. Soll der Bundesrat ab morgen Elektroöfen oder Verbrennungsmotoren verbieten, damit Strassburg zufrieden ist? Solche Massnahmen wollte der Souverän aber nicht. Das sind organisch, innenpolitisch gewachsene Realitäten. So entsteht der Eindruck: Die Strassburger Richter machen Politik.
Ein solcher Eindruck mag entstehen. Aber das Urteil verpflichtet nicht zu bestimmten Massnahmen. Diese liegen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Das Urteil ist kein Eingriff in den demokratischen Prozess, sondern es macht darauf aufmerksam, dass eine rechtliche Pflicht nicht hinreichend wahrgenommen worden ist.
Was passiert, wenn die Schweiz diese Ziele nicht erreicht?
Dann folgt die Verpflichtung, weiter zu handeln. Die Schweiz ist in der Wahl der Mittel völlig frei. Aber sie wird dem Ministerkomitee, bestehend aus den 46 Aussenministern des Europarats, mit einem Bericht rapportieren müssen. Dann wird das Gremium entscheiden, ob das Urteil umgesetzt ist oder nicht. Und solange es für nicht genügend angeschaut wird …
Ist die Möglichkeit denkbar, dass das Ministerkomitee sagt, das reicht uns nicht?
Ja, das kommt vor. Die Berichte werden nicht automatisch akzeptiert. Es gibt sogar Extremfälle, in denen es zu einem neuen Verfahren kommt. Wenn eine Zweidrittelmehrheit des Ministerkomitees nach erfolglosen Versuchen und Mahnung zum Schluss gelangt, dass sich die Vertragspartei weigere, das Urteil zu befolgen, kann die Angelegenheit noch einmal an das Gericht überwiesen werden.
Dann könnte es nochmals zu einer Verurteilung kommen.
Theoretisch ja.
Jetzt sind wir verwirrt. Das Urteil ist also doch nur für die Schweiz verbindlich, für die anderen Mitglieder ist es einfach ein Wegweiser?
So kann man es ungefähr sagen. Die anderen sind ja nicht Verfahrenspartei.
Nehmen wir an, in der Schweiz wird eine Volksinitiative angenommen, die drei neue Kohlekraftwerke fordert. Jetzt widerspräche ein solcher Volksentscheid Ihrer Rechtsprechung. Das ist der Souveränitätsverlust, den die Leute befürchten.
Bestimmte Ziele können die Staaten nur gemeinsam erreichen. Und darum schliesst die Schweiz ja auch Abkommen, wo sie erwartet, dass die anderen Staaten sich ebenfalls daran halten. Souveränität bedeutet nicht, dass man sich nicht an das gesetzte Recht und die Verträge, die man mit anderen Ländern geschlossen hat, halten muss.
Nun muss die Schweiz also auf Geheiss von Strassburg mehr für den Klimaschutz machen. Grüne, Linke und Umweltschützer jubeln. Die Landesregierung hält sich öffentlich bedeckt und wartet ab, welche weiteren Schritte das Bundesamt für Justiz empfiehlt. Am Mittwoch wurde die Sache bloss mit einer kurzen Notiz im Bundesrat abgehandelt. Hinter den Kulissen allerdings herrscht Unmut. Die bürgerlichen Parteien und ein Teil der Juristen wittern einen Bruch der Gewaltenteilung. Die SVP verlangt den Austritt aus dem Europarat. FDP-Ständerat und Rechtsanwalt Andrea Caroni (43) will die Menschenrechtskonvention mittels «griffigem Zusatzprotokoll» auf ihre «Kernaufgabe» reduzieren.
Mit Ihrem Verdikt machen Sie der SVP und ihrer Mission gegen weitere Anbindungen in Europa ein Geschenk. Sehen Sie, was dieser Entscheid politisch auslöst?
(Lacht.) Ich sehe viel. Nur ist es für die Justiz nicht relevant.
Wieso nicht?
Beim Entscheid, ob eine Verletzung der Menschenrechtskonvention vorliegt, ist die Frage nicht relevant, welche Auswirkungen auf eine politische Diskussion in einem anderen Bereich möglich sein könnten. Als Richter ist man gerade nicht Politiker.
Dieses Urteil könnte der Institution Europarat schaden.
Wie kommen Sie dazu?
Der Laie denkt beim Thema Menschenrechtsverletzungen an türkische Gefängnisse oder aserbaidschanische Angriffskriege, nicht an rechtsstaatlich abgestützte Behördenentscheide in einer offenen Demokratie. Der Sache der Menschenrechte erweisen Sie damit einen Bärendienst. Wann kommen Menschenrechtsklagen für vegane Nahrungsmittel oder wegen fehlender WCs fürs dritte Geschlecht?
Natürlich gibt es «Core Rights», also Kernrechte wie ein Folterverbot. Es gibt aber auch Menschenrechte, die nicht diese dramatische Schwelle erreichen. Dazu gehören etwa Versammlungsfreiheit oder Meinungsäusserungsfreiheit. Sie sind zentral für das Funktionieren einer Demokratie. Die Beeinträchtigung des Anspruchs auf Privatleben aufgrund des Klimawandels ist eine neuartige Herausforderung, die menschenrechtsrelevant ist. Denken Sie an Leben und körperliche Unversehrtheit der Menschen.
Politiker wie FDP-Ständerat Andrea Caroni fordern als Konsequenz, dass künftig das Parlament und nicht der Bundesrat den Schweizer Richter in Strassburg bestimmt.
Herr Caroni liegt nicht ganz richtig.
Wieso?
Der Europarat verlangt, dass die Regierungen eine Liste mit drei Kandidaten vorlegen, unter denen die Parlamentarische Versammlung die Wahl vornimmt. Innerstaatlich muss der Vorschlag auf einem transparenten Prozess beruhen. In der Schweiz ist es genau so, wie Herr Caroni verlangt, dass es sein sollte. Die Gerichtskommission der Bundesversammlung zusammen mit der Parlamentarischen Delegation des Europarates, alles Mitglieder unseres Parlaments, prüfen die Kandidaten unter anderem aufgrund einer Anhörung. Ihren Dreier-Vorschlag leiten sie an den Bundesrat weiter. Der Bundesrat könnte theoretisch davon abweichen, aber er hat das bisher nie gemacht.
Seit 2021 sind Sie im Amt. Jetzt weht Ihnen ein rauer Wind entgegen. Fühlen Sie sich noch wohl?
Mir geht es hervorragend. Es gehört zu meinem Beruf, dass nicht immer alle mit mir einverstanden sind – das ist in Ordnung.