Ein unabhängiges Katalonien? Mit meinen Freunden in Barcelona habe ich oft darüber diskutiert. Die Meinung war klar: Die Regierung in Madrid liebt keiner, der in Barcelona lebt und geschäftet. «Wir arbeiten, die geben unser Geld aus», hörte ich oft. Aber ein unabhängiges Katalonien? Das würde der Wirtschaft schaden und die Region ins Chaos stürzen, waren sich alle am Tisch einig.
Gestern haben 5,3 Millionen Katalanen über die Unabhängigkeit der Region abgestimmt. Obwohl sie es laut Verfassung gar nicht dürften. Die Regierung von Mariano Rajoy in Madrid hat das Referendum im Vorfeld verboten und für ungültig erklärt. Als sich die Regionalregierung unbeugsam zeigte, liess sie Stimmzettel vernichten, Beamte verhaften, zerstörte sogar die Abstimmungssoftware. Für den Abstimmungssonntag entsandte Rajoy 4000 zusätzliche Polizisten. Meinte er wirklich, die, die nach Unabhängigkeit streben, liessen sich mit Einschüchterung und Gewalt zur Einsicht bewegen?
Die Bilder, die uns aus Barcelona erreichen, zeugen von einer Eskalation mit Ansage. Die Polizei schiesst mit Gummischrot auf Menschen, die abstimmen wollen. Prügelt auf sie ein. Fotos zeigen Männer mit zerrissenen Hemden und blutigen Wunden. Ein Bild hat sich mir besonders eingebrannt: Eine Frau mit grauen Haaren kauert am Boden eines Wahllokals, die Hände hält sie schützend über ihren Kopf. Neben ihr ist eine Blutlache zu sehen, ihre Kleider sind rot. Mindestens 800 Menschen sind verletzt worden. Es sind beschämende Szenen, die sich heute in Barcelona abspielen. Für Spanien, für Europa. Für die Demokratie 2017.
Die Szenen in Barcelona richten doppelten Schaden an. Sie stärken die Aufrührer der Unabhängigkeitsbewegung. Weil sie das Feindbild Madrid nun noch besser kultivieren können. Und sie schwächen das Vertrauen der Menschen in die Demokratie – deren Auftrag es doch eigentlich ist, die Anliegen und Rechte aller Bürger ernst zu nehmen und zu vertreten.
Doch genau das haben die Demokratien Europas zunehmend aus den Augen verloren. Das zeigt sich in Spanien, aber auch beim Wahlsieg der AfD in Deutschland. Barcelona an diesem 1. Oktober zeigt uns, dass wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen. Eine starke Demokratie hat es nicht nötig, Andersdenkende niederzuknüppeln.
+++ Lesen Sie hier die neuesten Entwicklungen rund um die katalanische Unabhängigkeits-Abstimmung +++