Das Gefühl einer Inszenierung
Attentat in Haiti gibt Rätsel auf

Zwei Tage lang waren die sonst stets verstopften, lärmigen Strassen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince leer. Es herrschte Schockstarre.
Publiziert: 11.07.2021 um 15:33 Uhr
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Aktualisiert: 11.07.2021 um 15:49 Uhr
Die haitianische Flagge weht auf Halbmast vor dem Präsidentenpalast in Port-au-Prince. Drei Tage, nachdem Präsident Jovenel Moise in seinem Haus ermordet wurde.
Foto: AP

Im hügeligen Vorort Pelerin, wo Staatspräsident Jovenel Moïse in der Nacht zum Mittwoch in seiner Residenz erschossen worden war und die Polizei nun nach den Tätern fahndete, durchbrachen immer wieder Schüsse die gespenstische Stille.

Jetzt ist wieder so etwas wie Normalität eingekehrt - soweit man das von einer Stadt behaupten kann, die zu einem Drittel unter der Kontrolle brutaler Banden steht. Als Ausländerin traue sie sich noch nicht vor die Tür, berichtet die Landesdirektorin der Welthungerhilfe, Annalisa Lombardo. Es sind aufgebrachte Menschenmengen unterwegs, und die Regierung hat erklärt, dass die Attentäter Ausländer seien.

Fünf der insgesamt 28 Mitglieder der Kommandotruppe, die Moïse ermordet und seine Ehefrau Martine verletzt haben soll, sind laut Polizei noch auf der Flucht. 20 seien festgenommen worden, drei getötet. 26 der Täter sollen kolumbianische Söldner sein, die übrigen zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft. Sie sollen sich als US-Anti-Drogen-Agenten ausgegeben haben. Kolumbiens Führung hat 13 Ex-Soldaten des Landes als mutmassliche Beteiligte identifiziert. Angehörige von zwei der Soldaten haben im kolumbianischen Radio gesagt, diese seien als Personenschützer nach Haiti gegangen.

Die zwei grössten Fragen sind weiter offen: Wer hat den Mord in Auftrag gegeben? Und warum? Auch zum Ablauf der Ereignisse bleibt vieles ungeklärt. Warum haben beispielsweise die Wächter von Moïses Residenz anscheinend keinen Widerstand geleistet?

Rätselhaft sei auch, meint Lombardo, dass das angeblich gut ausgebildete Kommando offenbar keinen Fluchtplan hatte. «Und dann wurden sie vom wütenden Mob mit blossen Händen gefangen.» Mehr und mehr Haitianer bezweifelten, dass die kolumbianischen Söldner hinter dem Attentat steckten, erzählt sie. «Es gibt ein deutliches Gefühl, dass etwas inszeniert worden ist.»

Richard Widmaier findet es lachhaft, dass die sonst unfähige Polizei auf einmal 20 Profi-Killer innerhalb kurzer Zeit geschnappt haben will. «Das kauft ihnen keiner ab», sagt der Chef des Senders Radio Métropole. Es gebe auch Informationen, wonach die Kolumbianer in Wirklichkeit von der Regierung im Kampf gegen die Gangs im Juni angeheuert worden waren, in der Nacht zum Mittwoch zu Hilfe gerufen wurden und bei ihrer Ankunft den Präsidenten tot auffanden. «Es scheint, als seien sie diejenigen gewesen, die sie ins Krankenhaus brachten», betont er mit Blick auf die Präsidentengattin.

Die meldet sich am Samstag erstmals nach der Tat mit einer Audio-Nachricht auf Twitter zu Wort. Sie sagt, Gegner ihres Mannes hätten Söldner geschickt, um ihn umzubringen, weil er das Land verbessern und ein Verfassungsreferendum wollte.

Es werde jetzt mit dem Finger auf verschiedene Personen als mögliche Hintermänner gezeigt, sagt Widmaier. Moïse habe viele Feinde gehabt. Er hatte erst am Montag den Neurochirurgen Ariel Henry zum neuen Interims-Premierminister ernannt. Dessen Vereidigung fiel nach dem Attentat aber aus. Sein Vorgänger, der Aussenminister Claude Joseph, erklärte sich zum amtierenden Regierungschef. Manche Aktivisten und Politiker vermuten auch wegen dieser zeitlichen Folge einen Putsch.

Joseph wird von der internationalen Gemeinschaft als Ansprechpartner akzeptiert, Henry sieht sich aber als den wahren Premierminister. Weil Haiti seit gut eineinhalb Jahren kein beschlussfähiges Parlament mehr hat, kann keiner von beiden verfassungsgemäss bestätigt werden. Die zehn übriggebliebenen Senatoren haben jetzt den bisherigen Senatspräsidenten Joseph Lambert zum Übergangspräsidenten gewählt. Als Interimspräsident käme auch der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs infrage. Der ist aber vor wenigen Wochen an den Folgen von Covid-19 gestorben. Es zeichnet sich ein Machtkampf ab.

Der erste Herrscher des unabhängigen Haiti nach dem Sklavenaufstand, Jean-Jacques Dessalines, war 1806 ermordet worden. Vor Moïse ereilte zuletzt 1915 mit Vilbrun Guillaume Sam einen amtierenden haitianischen Präsidenten dieses Schicksal. Darauf folgte eine fast 20 Jahre lange Besatzung Haitis, das sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, durch die nahegelegenen USA.

Auch nach dem Putsch 2004 gegen Haitis ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Jean-Bertrand Aristide, kamen US-Soldaten, um die Lage zu beruhigen. Jetzt werden wieder Rufe nach einem stabilisierenden Eingreifen der USA laut. Die Regierung von Joseph hat die Biden-Regierung um Truppen gebeten, die lehnt das bisher aber ab.

Das tun auch viele Haitianer. «Wir wollen keine US-Truppen auf haitianischem Boden», twittert etwa die Aktivistin und Schriftstellerin Monique Clesca. Andere sehen darin die einzige Möglichkeit, dass die für den 26. September geplanten Präsidenten- und Parlamentswahlen stattfinden können - auch, weil Banden mit ihren Kämpfen um Gebiete zuletzt Tausende Menschen in die Flucht trieben und den Süden des Landes praktisch von der Hauptstadt abschnitten.

Widmaier befürchtet angesichts der Bandengewalt und einer wütenden und hungrigen Bevölkerung, dass es zu verheerenden Ausschreitungen wie am Ende der Duvalier-Diktatur 1986 kommen könnte. In dem Fall würde er US-Truppen begrüssen, meint er. «Wir alle spüren, dass irgendwas passieren wird - dass es noch nicht vorbei ist.»

(SDA)

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