Doch steht der 500-Milliarden-Euro-Plan der deutschen Regierungschefin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron vor grossen Hürden. Von mehreren EU-Partnern kommt Widerspruch, dabei müssten alle 27 Länder das Aufbauprogramm letztlich einstimmig billigen.
Doch klar war wohl allen am Dienstag, dass hier in der Europäischen Union Grosses passiert. Denn Merkel hat für Deutschland eine spektakuläre politische Wende hingelegt, die Europa für lange Zeit prägen könnte.
Worin besteht Merkels Wende?
Noch vor wenigen Wochen stemmte sich die Kanzlerin vehement gegen eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme. Was jetzt geplant ist, unterscheidet sich zwar etwas vom in Deutschland verpönten Konzept der «Corona-Bonds». Dennoch geht der deutsch-französische Vorschlag weiter als je zuvor: Die EU-Kommission soll in die Lage versetzt werden, 500 Milliarden Euro über Anleihen am Kapitalmarkt aufzunehmen und dieses kreditfinanzierte Geld über den EU-Haushalt als Zuwendungen für Investitionen in Krisenregionen der EU auszuzahlen.
Gemeinsame Schulden
Im Ergebnis bedeutet das: Europäische Schulden, die gemeinsam abgezahlt werden müssen. Deutschland bekommt aller Wahrscheinlichkeit nach kaum etwas von den Krisenhilfen, begleicht aber die Schulden über künftige EU-Haushalte zum Grossteil mit - immerhin ist Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt rund 27 Prozent. Nach dieser Rechnung müsste die Bundesrepublik langfristig 135 Milliarden des 500 Milliarden schweren Pakets schultern. Es ist eine Umverteilung in einem bisher ungekannten Mass.
Warum macht Merkel das?
Dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Interessen, aber auch die Sorge um den Zusammenhalt der EU. Südländer wie Italien oder Spanien werfen Deutschland in der Corona-Krise mangelnde Solidarität vor - und dort lauern Rechtspopulisten nur auf eine Schwäche Europas. Zudem befürchtet die Kanzlerin, dass China und Russland Einfluss in Osteuropa gewinnen könnten. Sie habe sich mit Macron «zusammengerauft», sagt die Kanzlerin, damit die EU-Kernländer Deutschland und Frankreich gemeinsam ein Signal des Zusammenhalts senden können.
Europa ist wichtigster Handelspartner
Europa ist für die Exportnation Deutschland zudem der wichtigste Handelspartner. Wenn die europäischen Partnerländer wirtschaftlich nicht wieder auf die Beine kommen, würde das deutschen Unternehmen massiv schaden. Denn in der Krise hat sich die wirtschaftliche Schieflage in Europa verstärkt, wie sich an nationalen Krisenhilfen zeigt: Das finanziell starke Deutschland hat mehr Geld in die eigene Wirtschaft gepumpt als alle anderen EU-Staaten zusammen - etliche Partner können sich die Finanzspritzen schlicht nicht leisten. Ihnen soll über das europäische Programm geholfen werden. Das Prinzip heisst Solidarität. Und eben auch: Erhalt von Absatzmärkten.
Hat der Plan Chancen?
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz meldete sofort Bedenken an, und zwar die, die Deutschland vor kurzem ebenfalls vorbrachte: Kreditfinanziertes Geld dürfe nicht über Brüssel als Zuschuss verteilt werden, sondern höchstens ebenfalls als Kredit. So ist es übrigens bei den bisher beschlossenen EU-Krisenhilfen im Umfang von 540 Milliarden Euro für Kurzarbeiter, Unternehmen und Krisenstaaten: alles ausschliesslich von den Empfängern rückzahlbare Kredite. Die Kritiker wollen dieses Prinzip keinesfalls kippen. Nach einem Austausch mit den Ministerpräsidenten Dänemarks, der Niederlande und Schwedens schrieb Kurz auf Twitter: «Unsere Position bleibt unverändert.»
Das Echo aus den mutmasslichen Empfängerländern wie Italien fiel freundlicher aus nach dem Motto: Guter Ansatz, aber vielleicht zu wenig Geld. Die osteuropäischen Kollegen bearbeitete Merkel am Dienstag in einer Telefonschalte. Ihnen dürfte gefallen, dass die 500 Milliarden Euro über zwei oder drei Jahre verteilt auf den normalen EU-Haushalt draufgesattelt werden sollen - statt Hilfsgelder etwa durch Kürzungen bei Agrar- oder Strukturfonds freizubekommen. Klar ist: Der deutsch-französische Plan ist nur ein Ausgangspunkt, offiziell wartet man nun auf den Vorschlag der EU-Kommission am 27. Mai. Und dann folgt vermutlich erbitterter Streit wie immer in der EU bei Haushaltsfragen. Trotzdem sehen auch die Gegner das Argument, dass der Binnenmarkt nicht auseinanderbrechen darf.
Bleibt der Vorgang einmalig?
Merkel nannte das Paket eine «aussergewöhnliche, einmalige Kraftanstrengung». Aber ob der neue Ansatz für Gemeinschaftsschulden tatsächlich einmalig bleibt, kann heute niemand sagen. Denn Merkel sagte am Montagabend auch klar, was sie nun schon ein paar Mal angedeutet hat: Sie will mehr Europa, und der deutsch-französische Plan ist eine Art Grundstein. Bei der ohnehin geplanten Zukunftskonferenz müsse man darüber ernsthaft sprechen. «Das kann auch Vertragsveränderungen einschliessen; das kann ein sehr viel engeres Zusammenrücken einschliessen», sagte die Kanzlerin. «Denn Europa muss weiterentwickelt werden.» Ob das auch nach der Bundestagswahl 2021 und dem Ende der Ära Merkel gilt und ob die Deutschen das mittragen, muss sich erweisen. Macron aber, einst Reformmotor in der EU, hat Merkel vorerst auf seine Seite gezogen.
Funktioniert Wiederaufbauplan ohne Änderung der EU-Verträge?
Das legen Merkel und Macron zumindest nahe. Merkel hat betont, das Paket müsse im Einklang mit den europäischen Verträgen und dem europäischen Haushaltsrecht stehen. Im Mittelpunkt dürfte der Artikel 122 des EU-Vertrags stehen, der Hilfsmassnahmen im «Geiste der Solidarität» zulässt. Kritiker halten das «Verschuldungsverbot» in Artikel 311 entgegen, wonach der EU-Haushalt «vollständig aus Eigenmitteln» zu finanzieren ist. Auch juristisch dürfte es also noch hakelig werden. Wichtig für Merkel ist, dass die Haushaltsautonomie des Bundestages gewährleistet ist und ein europäisches Paket auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben kann.
Wird der Bundestag zustimmen?
Die Finanzexperten der Unionsfraktion im deutschen Parlament haben sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich positiv geäussert, ebenso SPD, Grüne und Linkspartei. Die AfD dürfte dagegen sein. Doch wie der Bundestag im Herbst oder Winter abstimmt, wird davon abhängen, wie das Paket nach den anstehenden Brüsseler Verhandlungen tatsächlich aussieht. (SDA)
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