Die «kleine Grippe», wie Präsident Jair Bolsonaro (65) die Corona-Pandemie anfänglich genannt hatte, stürzt Brasilien in eine der grössten Krisen in der Geschichte des Landes. Zwei Monate nach dem ersten registrierten Todesfall sind in Brasilien mehr als 16'000 Patienten im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben – an einem einzigen Tag gab es 816 Tote.
Die Anzahl Neuinfektionen liegt inzwischen bei 233'142, dies, obwohl im Gegensatz zu anderen Ländern weniger getestet wird. Nach den Daten der in den USA beheimateten Johns-Hopkins-Universität liegt das Land damit bei der Zahl der Todesopfer weiter auf Platz sechs, bei der Zahl der Infizierten auf Platz vier der am schwersten betroffenen Länder – vor Italien und Spanien.
Studien prophezeien das Schlimmste: Bis Anfang August könnte es 194'000 Tote geben, rechnet etwa das Institute for Health Metrics and Evaluation. Die Spitäler wären mit dem Ansturm von Infizierten noch überforderter.
Elend bei den Ärmsten
Die Pandemie wütet in Brasilien nicht nur in den Städten, sie greift inzwischen auch auf die Ureinwohner über. Wie die Vereinigung der Ureinwohner (Apib) berichtet, seien 38 indigene Völker betroffen. Das Virus erreiche mit «beängstigender Geschwindigkeit» alle ihre Gebiete. 440 Ureinwohner seien infiziert, 92 gestorben.
Auch in den Slums sorgt Corona für grosses Leid. In den ärmlichen Siedlungen, den Favelas, fehlt es den Bewohnern oft am Nötigsten wie Wasser und Seife, zugleich leben ganze Familien in einem Raum zusammen. Abstand halten ist da kaum möglich. Fliegende Händler und Tagelöhner, Putzfrauen und Müllsammler, Schuhputzer und Mariachi-Musiker können kein Homeoffice machen. Bis zu 60 Prozent der Einwohner in der Region haben keinen Arbeitsvertrag, keine Rücklagen und nur geringen sozialen Schutz.
«Zurück an die Arbeit!»
Der rechtsgerichtete Bolsonaro, auch Trump Lateinamerikas genannt, hatte die Corona-Gefahr lange ignoriert. Auch jetzt kritisiert er die Beschränkungen der Gouverneure. Viel lieber will er die Wirtschaft wieder zu Laufen bringen.
Wegen seiner Corona-Politik hat der zweite Gesundheitsminister innerhalb eines Monats den Rücktritt eingereicht. Der studierte Mediziner Nelson Teich (62) hatte sich geweigert, das umstrittene Malariamedikament Chloroquin bei Corona-Kranken zu verwenden. Sein Vorgänger musste gehen, weil er mit seiner besonnenen Corona-Politik zu populär geworden war.
Bolsonaro will so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren, um eine Rezession zu vermeiden und so seine Popularität wieder zu steigern. Nach dem Rücktritt des Ministers sagte er: «Alle müssen wieder an die Arbeit zurück. Wer nicht arbeiten will, bleibt verdammt nochmal zu Hause. Punkt. Aus!»
Noch halten Evangelikale, ein Teil der Unternehmer und ein Teil des Militärs zu ihm. Sie fordern, dass er ein autoritäres Regime einrichtet. Aber die Unterstützung für den Präsidenten schwindet. Die Rufe nach einem Amtsenthebungsverfahren nehmen zu.
Vorsprung verspielt
«Brasilien hätte eine der besten Antworten auf diese Pandemie haben können», sagte die Brasilianerin Marcia Castro, Gesundheitswissenschaftlerin an der Harvard University, der «New York Times». Brasilien war bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. «Aber jetzt ist alles unorganisiert, niemand arbeitet an gemeinsamen Lösungen.»
Die Corona-Krise verschärft die sozialen Unterschiede noch. In einer Studie der katholischen Universität UCA in Buenos Aires heisst es: «Wir erleben nicht nur eine Epidemie, sondern auch eine neue Welle struktureller Armut, die vor allem die schwächsten Teile der Gesellschaft treffen wird.» (gf)
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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