War das Gezeter um die Wiedereröffnung der obligatorischen Schulen und Kindergärten umsonst? Die Wissenschaftler hinter der sogenannten Heidelberg-Studie widersprechen der gängigen Meinung, dass Kinder bei Corona wie bei einer normalen Grippe die Treiber der Epidemie sind.
Selbst der Star-Virologe Christian Drosten (48) vertrat die Ansicht, dass Kinder «genauso ansteckend sein könnten wie Erwachsene». Er warnte daher Ende April dringend «vor einer unbegrenzten Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten». Geht es nach der Heidelberg-Studie, sind diese Warnungen unbegründet.
2500 Kinder-Eltern-Paare getestet
Forscher aus den Unikliniken Heidelberg, Ulm, Freiburg und Tübingen haben für die Studie etwa 5000 Menschen auf das Virus und auf Antikörper dagegen getestet: rund 2500 Kinder unter zehn Jahren und je ein Elternteil.
Dabei zeigte sich Überraschendes: Kinder steckten sich seltener mit dem Coronavirus an als ihre Eltern. Die Studie wurde bisher nicht in einem Fachjournal veröffentlicht. Doch an einer Regierungspressekonferenz in Baden-Württemberg erläuterten die Forscher die Ergebnisse: «Kinder sind weniger angesteckt als ihre Eltern und damit auch, soweit man das sagen kann, sicherlich nicht als Treiber der Infektion anzusehen», sagte Klaus-Michael Debatin (67), Direktor der Kinderklinik an der Universität Ulm laut «Bild».
Rückkehr an die Schulen
Die Studie sei eine der grössten ihrer Art weltweit, sagte Debatin. Dementsprechend hat sie politisches Gewicht: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (72, Grüne), der die Studie in Auftrag gegeben hatte, gab bekannt, dass ab dem 29. Juni alle Kinder in die Kitas und Grundschulen zurückkehren können. Sämtliche Schulen in Deutschland sollen zudem spätestens nach den Sommerferien in den Regelbetrieb zurückkehren, wie Bund und Länder am Mittwoch beschlossen. Vorausgesetzt, dass sich die Infektionslage in der Corona-Krise weiterhin gleichbleibend gut entwickelt.
Statistik-Experten hatten die Grundlage für Drostens Warnung vor einer unbegrenzten Wiedereröffnung der Schulen bereits früher kritisiert. Die in der Studie der Berliner Charité angewandten Methoden seien nicht geeignet, hiess es von Wissenschaftlern unter anderem. Drosten gestand ein, die statistischen Methoden seien eher grob gewesen, hielt aber an der Aussage der Studie fest.
Empfehlungen abgeschwächt
Anfang Juni veröffentlichte Drosten schliesslich eine zweite Fassung seiner Studie. Darin schwächte er die Empfehlung an die Politik etwas ab, blieb seiner grundsätzlichen Aussagen aber treu. Die uneingeschränkte Öffnung von Schulen und Kindergärten solle «durch vorbeugendes diagnostisches Testen sorgfältig überwacht» werden. Er begründete dies unter anderem mit dem Beispiel einer normalen Grippe mit «ähnliche Viruslasten» von Kindern und Erwachsenen.
Den Forschern der Heidelberg-Studie zufolge sind Grippe und Coronavirus bei Kindern jedoch nicht vergleichbar. Debatin betont, dass sich die Forscher der Heidelberg-Studie «vor der Charité nicht zu verstecken» bräuchten. (noo)