Madame Ockrent, wenn der Sozial- und Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron nächsten Sonntag zum Präsidenten Frankreichs gewählt wird, ist das vor allem eine Entscheidung gegen die Rechtsextremistin Marine Le Pen. Schadet das nicht seinem Image, seiner Präsidentschaft?
Christine Ockrent: Einfach wird das nicht. Aber diese Mechanik gilt heute in allen Demokratien: Bei Wahlen geht es immer mehr darum, einen Kandidaten zu verhindern, als jemanden wirklich wählen zu wollen.
Die erste Wahlrunde vor einer Woche war für Frankreichs Politik ein Erdbeben. Warum?
Frankreichs Verfassung von 1958 ist darauf ausgelegt, die beiden grössten politischen Parteien zu bevorzugen, damit bei Wahlen klare Mehrheiten für eine Regierung herauskommen. Am letzten Sonntag gabs diese Mehrheiten nicht mehr, sondern vier nahezu gleich grosse politische Gruppen – neben jenen von Macron und Le Pen die Bürgerlichen mit François Fillon und die Linksextremen mit Jean-Luc Mélenchon.
Und was bedeutet das?
Frankreich und die Franzosen werden Kompromissbereitschaft lernen müssen. Wenn Macron gewählt wird, muss er mit Linken und Rechten zusammenarbeiten. Er wird mit variablen Mehrheiten und Allianzen leben müssen. Diese Koalitionen können von Fall zu Fall und themenbezogen geschmiedet werden. Das würde übrigens auch für den unwahrscheinlichen Fall gelten, dass Marine Le Pen gewählt wird.
Wird Ihr Land für die nächsten fünf Jahre unregierbar?
Nein, aber es wird schwieriger, weil es neu ist für Frankreich. Dass man Kompromisse machen und unterschiedliche Koalitionen finden muss, wird für Franzosen sehr gewöhnungsbedürftig sein.
Heisst das, Sie rechnen mit einem heissen Herbst, mit Demonstrationen und Streiks?
Das kann gut sein. Über den Sommer werden viele Leute in den Ferien ihre Unzufriedenheiten bündeln und sie dann ohne jede Kompromissbereitschaft auf die Strasse tragen. Das ist in Frankreich immer so.
Macron gehört zum Establishment, von dem viele Franzosen genug haben und darum die Rechtsextreme Marine Le Pen wählen.
Stimmt, Macron ist ein reines Produkt des Establishments – aber seine Gegnerin Marine Le Pen übrigens auch. Darum spielt die Zugehörigkeit zum Establishment letztlich keine grosse Rolle.
Le Pen ist mit einem Anti-EU-Programm in die zweite Wahlrunde gekommen, Macron mit einem Pro-EU-Programm. Wird er ein wenig europakritischer sein, um ihr Stimmen abspenstig zu machen?
Die Europafrage hat Frankreich immer geteilt, aber die EU geniesst grossen Rückhalt im Volk, der Euro eine noch grössere. Es ist darum genau umgekehrt: Le Pen redet praktisch nicht mehr von der EU und dem Euro. Sie meidet das Thema, weil ihre Position nicht mehrheitsfähig ist, jene von Macron aber schon.
Hätte ein Präsident Macron angesichts der wirtschaftlichen, sozialen und jetzt auch noch politischen Probleme Frankreichs überhaupt die Zeit, sich noch um die Reform der EU zu kümmern?
Das geht Hand in Hand. Alles, was Europa voranbringt, bringt auch Frankreich voran und umgekehrt. Macron wird auf jeden Fall Flagge zeigen und die Stimme Frankreichs in der EU lauter werden lassen.