Stacheldraht, gepanzerte Fahrzeuge und Kampfflugzeuge des Typs F/A Super Hornet im Tiefflug: Lugano TI ist gerüstet, die Luganesi sind gespalten. «Es sieht ein bisschen aus wie in einem James-Bond-Film», kommentiert Susanna Plata (38) die Sicherheitsmassnahmen vor der «Ukraine Recovery Conference» gegenüber Blick TV. «Viel Rauch um nichts. Der Bundespräsident hat niemandem einen Gefallen getan», sagt Gemüsehändler Massimo Mion (55), der wegen der Grossveranstaltung weniger Kundschaft erwartet. Hauptsache, es werde geredet, findet hingegen Marijean Kunz (84). «Eine gute Reklame», sagt Silvia Keck (75) über das internationale Treffen im Tessin. Am Montag und Dienstag wollen die Schweiz und die Ukraine hier den Startpunkt für den Wiederaufbau setzen. SonntagsBlick liefert Ihnen den Überblick.
Altes Gefäss, neue Form
Der Ukraine-Gipfel ist kein komplett neues Format. Die Schweiz richtet die seit 2017 jährlich stattfindende Reformkonferenz aus. Wegen der verheerenden Kriegsauswirkungen wurde sie jedoch umgetauft. Die nächste Konferenz könnte in Grossbritannien stattfinden.
Abkommen von Lugano
Bundespräsident Ignazio Cassis (61) und der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal (46) eröffnen die Konferenz am Montag um 11.30 Uhr. Nach einer Rede von Staatschef Wolodimir Selenski via Video und Präsentationen durch die Ukraine, internationale Organisationen, EU und USA wird in kleineren Gruppen über verschiedene Dimensionen des Wiederaufbaus gesprochen: Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur und Digitalisierung.
Am Dienstagvormittag wollen sich die Teilnehmenden zur Unterstützung und dem Wiederaufbau der Ukraine bekennen. SonntagsBlick weiss: Geplant ist eine «Deklaration von Lugano». Diese soll neben einer umfassenden Solidaritätsbekundung konkrete Prinzipien für einen nachhaltigen und zukunftsgerichteten Wiederaufbau des Landes beinhalten.
Kaum Politprominenz
EU-Chefin Ursula von der Leyen (63) kommt, ansonsten fehlen grosse Namen. Staats- und Regierungschefs kommen dafür aus Polen, Litauen, der Slowakei und Tschechien. Erwartet werden zudem mindestens 15 Ministerinnen oder Minister sowie 52 offizielle Delegationen aus 38 Staaten und der EU, ausserdem Vertreter von 14 internationalen Organisationen. Insgesamt wird mit mehr als 1000 Teilnehmenden gerechnet, auch aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft. Der höchste teilnehmende Ukrainer ist Ministerpräsident Schmyhal.
Zoff bei den Ukrainern
Wie Blick am Donnerstag enthüllte, gabs im Parlament in Kiew Streit um Lugano. Die Regierungspartei Diener des Volkes wollte die anderen demokratischen Parteien vom Ukraine-Gipfel ausschliessen. Nach einem Eklat schicken nun auch die Partei Für die Zukunft, welche zur Regierungsfraktion gehört, die von Ex-Präsident Petro Poroschenko (56) geführte Europäische Solidarität, die progressive Holos sowie Vaterland je eine Vertreterin oder einen Vertreter in die Schweiz.
Selenski hält Video-Rede
Der ukrainische Präsident kommt «nur» virtuell. Er sei aber «von Anfang an» in die Vorbereitungen eingebunden gewesen, betonte der ukrainische Botschafter in der Schweiz, Artem Rybchenko (39), am Donnerstag in Bern. Wegen des Kriegs müsse Selenski in der Ukraine bleiben. Seit Putins Einmarsch hat er die Hauptstadt Kiew nur wenige Male verlassen, das Land noch gar nicht.
Lugano-Prinzipien statt Marshallplan
Kiew will schnell Geld für befreite Gebiete sehen und stellt einen eigenen Entwurf für einen Wiederaufbauplan vor. Die Schweiz dämpft die Erwartungen an einen Marshallplan und sieht in der Konferenz eher eine Art Startrampe für den Wiederaufbau. «Es geht um Prinzipien, damit bei Kriegsende alles bereit ist», sagte der EDA-Sonderbeauftragte Simon Pidoux (49) am Donnerstag in Bern. Denn ohne Leitlinien werde es auch von der EU kein Geld geben, das stellte EU-Chefin Ursula von der Leyen am WEF gegenüber Bundespräsident Ignazio Cassis klar. Man müsse aufpassen, dass es keine neuen Ukraine-Oligarchen gebe.
Problemfall Korruption
Die Ukraine ist – abgesehen von Russland – das korrupteste Land Europas. Ignazio Cassis forderte darum bereits eine «kontinuierliche Prüfung» von Spendengeldern. Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba (41) verteidigte bei seinem WEF-Besuch sein Land: «Wenn wir so korrupt wären, wie manche Leute gerne sagen, wäre unser Land in den ersten drei Tagen gescheitert, wie Putin ursprünglich geplant hatte, weil das System korrupt gewesen wäre. Die Menschen wären nicht bereit gewesen, es zu verteidigen.»
Wirtschaft der Ukraine ist am Boden
Jede Kriegswoche verursacht laut Schätzungen neue Infrastrukturschäden von 4,5 Milliarden US-Dollar in der Ukraine. Die Weltbank prognostizierte wegen fehlenden Investitionen, Massenvertreibungen, Hafenblockaden und sinkenden Exporten und Importen für dieses Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts um 45 Prozent. Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung: «60 Prozent unserer Mitglieder sind voll funktionsfähig, 34 Prozent arbeiten teilweise weiter», sagt Andy Hunder, Präsident der amerikanischen Handelskammer in der Ukraine, zu SonntagsBlick. Laut einer internen Umfrage planten 95 Prozent, den Betrieb in der zweiten Jahreshälfte 2022 fortzusetzen. Und: Die Ukraine biete sich nach dem Krieg für internationale Unternehmen als alternative Geschäftspartnerin zu Russland an.
Sicherste Stadt der Schweiz
Bis zu 1600 Soldatinnen und Soldaten sind aufgeboten, die Luganer Innenstadt grossflächig abgesperrt. Den Luganersee sichern neben der Luganer Seepolizei zwei P16 Patrouillenboote der Motorbootkompanie 10 der Schweizer Marine.
Wegen der Topografie – nahe an der Landesgrenze und viele Berge drum herum – ist Lugano aus der Luft vergleichsweise schwer zu schützen. Eine Fliegerabwehrkanone ist bei der Flussmündung am Rande des Parco Ciani stationiert. Beim Flughafen Lugano-Agno bilden Truppen um Lande- und Startbahn einen Sicherheitsgürtel zum Schutz der anreisenden Politprominenz. Auf dem Militärflugplatz in Locarno TI stehen zudem Militärhelikopter bereit, darunter zwei Super Puma.