Der Kreml schreibt die Geschichte neu. Und zwar so, wie es den russischen Herrschern passt. So werden zurzeit auf dem Online-Lexikon RuWiki, das bisher praktisch eine Eins-zu-eins-Kopie von Wikipedia war, Einträge abgeändert. Im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz kann die Propaganda praktisch unsichtbar weltweit verbreitet werden.
So lernt man unter «Ukraine», dass der Krieg im Donbas 2014 von den Zentralbehörden in Kiew entfesselt worden sei, was zur «Notwendigkeit einer besonderen Militäroperation» geführt habe. RuWiki zeigt die Ukraine-Karte ohne die Halbinsel Krim und den Donbas und schreibt dem Land eine Fläche von nur noch 468’000 statt 603’000 Quadratkilometern zu.
Die russischen Gräueltaten von Butscha, bei denen 2022 über 440 Menschen massakriert worden sind, werden als «ukrainische und westliche Desinformationskampagne» abgetan. Von der ukrainischen Stadt Cherson gibt es zwar einen Eintrag, aber über die russischen Bomben, die sie zerstört haben, kein Wort.
Putin-Beschimpfung gelöscht
Umgeschrieben wurde auch die Hinrichtung von knapp 22’000 polnischen Offizieren und Intellektuellen im Jahr 1940 durch die Sowjets. Alle Informationen über den Kreml-Kritiker Alexei Nawalny (†47), der vergiftet worden war und später im Arbeitslager starb, wurden geändert. Nawalny wird nur noch als «Blogger» beschrieben.
Auch Themen wie LGBT und Oralsex, zu denen der Kreml eine eigene Meinung hat, wurden abgeändert. Ganz ausgelassen wurde der Begriff «Putin chuilo!», ein Gesang, der in ukrainischen Fussballstadien angestimmt wird und den russischen Präsidenten frei übersetzt als «Arschloch» beschimpft.
Professionelle Autoren am Werk
Wie der britische «The Economist» schreibt, wird die überwiegende Mehrheit der Änderungen während der Arbeitszeit vorgenommen. Das heisst: Im Gegensatz zu Wikipedia, das von Freiwilligen oft in der Freizeit gefüttert wird, sind hinter den Änderungen wohl professionelle Autoren am Werk. Bisher wurden Änderungen angezeigt, jetzt nicht mehr.
Mit der Umschreibung der Geschichte folgt Russland einer alten Sowjettradition. Russland-Experte Ulrich Schmid von der Uni St. Gallen erklärt: «Auch die grossen Sowjetenzyklopädien boten eine stark zensierte Version der Geschichte, und einzelne unbequeme Personen wurden einfach ausgeblendet.» Das berühmteste Beispiel ist Stalins Gegner Leo Trotzki, den man von einem Foto retuschiert hat.
Ein weiteres Beispiel von neuer Zensur ist die russische Ausgabe von Yuval Hararis «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert», in dem mit Einverständnis des Autors Kritik an Putin durch Kritik an Trump ersetzt wurde. Zudem wurde 2023 ein Geschichtsbuch herausgegeben, in dem behauptet wird, dass der Westen die Zerstörung Russlands plane, um ihm seine natürlichen Ressourcen zu nehmen.
«Eine kluge Strategie»
Mykola Makhortykh, Propagandaspezialist am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Uni Bern, bezeichnet die Umschreibung des Gratis-Lexikons als «wichtiges Element in der Zensurstrategie des Kremls». «Es ist eine kluge Strategie, denn sie ist nicht so aufdringlich, als würde man einfach die Informationsquelle verbieten, die viele Russen nutzen und der sie vertrauen.»
Noch ist RuWiki relativ klein. Doch Makhortykh warnt: «Wenn der Kreml RuWiki langfristig unterstützt, kann es zu einem sehr gefährlichen Desinformationsinstrument werden, da es eine grosse Menge an guten Inhalten mit einigen selektiven Verzerrungen von Fakten kombiniert, die nur schwer zu erkennen sind.»
Gefährliche Mischung mit KI
Dass RuWiki bereits gefördert wird, sieht man daran, dass es auf der russischen Suchmaschine Yandex schon weit oben liegt. Das bringt einen gefährlichen Schneeballeffekt. Makhortykh: «Sehr besorgniserregend ist die Möglichkeit, dass verzerrte Darstellungen von Fakten aus RuWiki für die Entwicklung generativer KI-Modelle sowohl in Russland als auch in anderen Teilen der Welt verwendet werden, um so die Desinformation des Kremls verbreiten.»
Im Gegensatz zu andern Medien hat der Kreml Wikipedia nicht auf die schwarze Liste gesetzt – noch nicht. Die Änderungsoffensive auf RuWiki dürfte laut «The Economist» ein Anzeichen dafür sein, dass das westliche Gratis-Lexikon bald eingestellt wird.
Dabei zitiert die Zeitung Sergei Leschina, einen ehemaligen Angehörigen des russischen Wikipedia-Teams. Dieser prophezeit, dass das russische Internet langsam von ausländischen Seiten gesäubert wird und die lokalen Suchmaschinen und KI-Modelle bald gezwungen werden, der neuen, gefälschten Geschichte Vorrang zu geben.