Mein Schulleiter: männlich. Meine Professoren im Studium: männlich. Meine Chefs und Redaktionsleiter: Sie wissen es. Nur in einer Position kann ich mir keinen Mann mehr vorstellen: als Bundeskanzlerin. Ich kann mir überhaupt niemand anderen mehr in diesem Amt vorstellen als Angela Merkel.
2005 war ich 13, als sie Kanzlerin wurde. Mein halbes Leben ist sie das jetzt. Merkels Abschied löst bei mir Wehmut aus. Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass ich als Frau in dieser Welt, in meinem Heimatland trotzdem alles werden kann.
Als ich nach dem Abitur zum Studium nach Dresden ging, spotteten Freunde über meinen Umzug nach «Dunkeldeutschland». Dabei hat die Mauer für mich nie existiert, ich bin nach der Wende geboren.
Aber viele der Älteren in Ostdeutschland fühlen sich auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer minderwertig und sehen Deutschland geteilt in «Besser-Wessis» und «Mecker-Ossis». Und ich verstand: Wie irre, dass es nicht nur eine Frau, sondern auch noch eine Ostdeutsche an die Spitze unserer Regierung geschafft hat.
Ich weiss nicht, ob ich später von meiner Rente leben kann
Grosse Themen wie die Digitalisierung oder die Verarmung hat Merkel nicht angepackt. Den Syrien-Konflikt und die darauf folgende Flüchtlingskrise hätte sie kommen sehen müssen. Ich weiss nicht, ob ich später von meiner Rente leben kann. Und auf dem Amt muss ich eine Nummer ziehen, statt den Behördengang bequem online zu erledigen.
Aber gleichzeitig hat sie mir das Gefühl von Stabilität und Sicherheit vermittelt. Das ist nicht das einzige Argument für eine Wahlentscheidung. Und trotzdem, was seit 2005 auf der Welt (Finanzkrise! Die griechischen Staatsschulden! Krim-Annektierung!) und in meinem eigenen Leben (Auszug! Studium! Jobentscheidung!) passierte: Die Merkel-Raute war immer präsent, ihre Halterin regierte unaufgeregt und verlässlich.
Die Machthaber um sie herum änderten sich, Merkel nicht. Die alten (und jungen) Männer in ihrem direkten Umfeld stolperten – wie Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg oder Ex-Bundespräsident Christian Wulff – über Plagiats- oder Bestechungsskandale, sie polterten wie Jens Spahn, provozierten wie Horst Seehofer: Merkel regierte sie alle weg, leistete sich keine moralischen Verfehlungen und liess sich auf keine parteiinternen Scharmützel ein.
Und sie machte etwas, was in der Politik nicht so oft vorkommt: Sie traute sich, ihre Meinung öffentlich zu ändern – beim Atomausstieg, beim Mindestlohn, bei der Homo-Ehe. Merkel ist nicht progressiv, keine überzeugte Modernisiererin. Das muss sie auch nicht sein. Mir ist es wichtiger, dass jemand im Hintergrund vernünftig arbeitet, zu seinen Überzeugungen steht, sie aber auch regelmässig hinterfragt. Sie mutete ihrer Partei und dem Land immer gerade so viel zu, wie möglich war. Und sie erklärte ihre Entscheidungen. Wieder: unaufgeregt, transparent.
Merkels Entscheidungen in der Flüchtlingskrise fand ich richtig
Dann kam 2015 die Flüchtlingskrise. Sie traf Europa unvorbereitet. Auch Merkel hatte die grossen Krisenherde im Mittleren Osten und Afrika völlig unterschätzt. Aber sie tat etwas, vor dem ich den allerhöchsten Respekt habe: Sie traf ihre folgenden Entscheidungen in dieser Krise nicht aus Machtkalkül, sondern auf Basis ihrer christlichen Werte.
Sie verbreitete keine Panik, sie schürte keine Ängste. Sie grenzte sich klar nach rechts ab, sagte: Wir schaffen das. Und sie tat das Menschlichste, das möglich war, als sie gemeinsam mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann im September den seit Tagen in Budapest festsitzenden Flüchtlingen erlaubte, ohne vorherige Registrierung nach Deutschland und Österreich zu reisen.
Die Entscheidung spaltet noch heute das Land, Freunde und Familien. Aber was hätte die Kanzlerin damals auch tun sollen, als sich Ungarn abschottete und Tausende erschöpfte, vor dem Krieg geflohene Menschen sich selbst überliess? Die Menschen wären doch ohnehin gekommen. Wer in Not ist, den halten keine Grenzen, keine Zäune, keine Mauern ab. Es ist das Mindestmass an Humanität und christlichem Werteverständnis, das Merkel als Pfarrerstochter hat, den Geflohenen zu ermöglichen, einen Asylantrag in einem funktionierenden Land wie Deutschland zu stellen.
Wenn ich an ihren Abschied denke, bin ich wehmütig
Vier Monate nach dieser Entscheidung feierte ich Silvester in Warschau mit Freunden, die ich von einem Auslandsaufenthalt her kannte. Wir schauten zusammen die Neujahrsreden unserer Staats- und Regierungschefs und übersetzten sie uns gegenseitig: Putin, Hollande, Merkel. Und ich merkte, wie zugetan die anderen meiner Bundeskanzlerin waren. Ich kritisierte die Kanzlerin – meine russischen, französischen, britischen Freunde aber wünschten sich genau so ein verlässliches und integres Regierungsoberhaupt. Das machte mich seltsam stolz.
In den vergangenen drei Jahren ist wieder viel auf der Welt und in meinem Leben passiert. In Europa sind die Populisten auf dem Vormarsch, weltweit üben sich Länder im Wettrüsten, in Amerika wurde ein notorischer Lügner zum Präsidenten gewählt. Doch Merkel ist noch immer Kanzlerin – noch.
Einen ersten Teil ihrer Macht gibt sie im Dezember ab, den grössten spätestens 2021. Gut möglich, dass sie auch schon vorher an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergibt: dann, wenn sie es für richtig hält. Nicht hoppladihopp, nicht eingeschnappt, sondern in Würde – wie es dem Amt gebührt.
«Wir werden uns noch nach ihr sehnen», würdigte sie die Tageszeitung «taz» nach ihrer Ankündigung. Die Merkel-Gegner, die Populisten und die Konservativen mögen dem nicht zustimmen. Ich in jedem Fall schon.