Brexit-Boris hat es geschafft und sich die absolute Mehrheit im Parlament gesichert. Mit dem prognostizierten Sieg bei der Wahl kann Premierminister Boris Johnson (55) endlich den Brexit «erledigen» und das Land am 31. Januar aus der EU führen. So hat er es im Wahlkampf versprochen.
Doch den Briten droht ein böses Erwachen. Denn: Boris Johnsons Brexit-Deal reicht nicht! Mit dem EU-Austritt beginnt die eigentliche Arbeit erst.
«Die Wahrheit sieht anders aus und könnte für die Leute ein Schock werden», erläuterte Politikprofessor Anand Menon vom Londoner King's College kurz vor der Wahl in einem Video auf seinem Twitter-Account. «Das wird kein Ende des Prozesses, es wird der Anfang von Handelsgesprächen, die versprechen, lange, zäh und bitter zu werden.»
Johnsons Brexit-Deal regelt nur Übergangsphase
Ähnlich sieht es Ivan Rogers, der ehemalige britische Chefdiplomat in Brüssel. Er warnte in einer Rede an der Universität Glasgow kürzlich davor, die grösste Krise in Sachen Brexit stehe Grossbritannien noch bevor.
Tatsächlich regelt der «fantastische» und «ofenfertige» Brexit-Deal, wie Johnson gerne schwärmt, nichts anderes als den geordneten Austritt Grossbritanniens und eine Übergangsphase bis Ende 2020. Sonst nichts. Wie das Land künftig mit seinen wichtigsten Partnern Handel treibt und zusammenarbeitet, ist nur in Grundzügen in einer unverbindlichen politischen Erklärung angerissen.
Im Detail muss das im Laufe des kommenden Jahres geregelt werden. Die Bundesregierung gibt sich zwar optimistisch, ein Standard-Handelsabkommen sei machbar, hiess es am Mittwoch aus Regierungskreisen. Doch das Problem ist, dass Johnson dafür Ziele ausgegeben hat, die nicht zu vereinbaren sind.
EU rechnet nicht mit den Briten
Einerseits will er zoll- und abgabenfreien Handel mit der Europäischen Union, auf der anderen Seite hält er nichts von einer engen Bindung an EU-Regeln, beispielsweise wenn es um Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und staatliche Wirtschaftsförderung geht. Beides, da sind sich Experten sicher, wird aber nicht zu haben sein.
Warum sollte Brüssel einem Handelspartner vor der eigenen Haustüre weitgehenden Zugang zum eigenen Markt geben, wenn der nicht garantiert, dass er sich an die Spielregeln eines fairen Wettbewerbs hält? Zudem entscheidet nicht Brüssel allein, das Abkommen wird von allen 27 nationalen und womöglich auch einigen regionalen Parlamenten abgesegnet werden müssen.
Selbst die Beamten im britischen Brexit-Ministerium haben Zweifel, ob genug Zeit bleibt, um die vereinbarten Regelungen für Nordirland umzusetzen, wie ein an die Presse durchgesickertes Regierungsdokument beweist.
Bis Juni kann Johnson den Übergang verlängern
Ein Ausweg könnte eine Verlängerung der Übergangsfrist um bis zu zwei Jahre sein. In der Übergangsphase bleibt alles beim Alten, Grossbritannien wird weiterhin EU-Regeln unterworfen sein, Beiträge zum Haushalt zahlen, aber kein Mitspracherecht in den Gremien der Staatengemeinschaft mehr haben. Die Verlängerungsoption ist aber nur bis Ende Juni verfügbar und es dürfte Johnson schwerfallen, nach all dem Getöse vom «Kettenabwerfen» und dem Rückgewinn der Souveränität diesen Weg zu gehen.
Das bedeutet, Grossbritannien bewegt sich wieder auf einen Klippenrand zu, hinter dem erhebliche Handelsbarrieren drohen. Oder der Premierminister vollzieht unerwartet eine Kehrtwende und sucht eine deutlich engere Bindung an Brüssel als seine vollmundigen Ankündigungen bislang erwarten liessen. In Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten dürften viele heimlich darauf hoffen.
Die Hoffnung der Opposition hingegen liegt noch auf den finalen Wahlergebnissen. Die werden erst im Laufe des Freitags erwartet. Allerdings gilt die Nachwahlbefragung, die Johnson einen Erdrutschsieg prognostiziert, als äusserst präzise. (SDA/kin)