Brexit und Rahmenabkommen mit Bern
EU-Juncker versucht die Quadratur des Kreises

Die EU sucht im Streit mit Bern und London gleichzeitig nach einer Lösung. Dadurch wird der Spielraum für Jean-Claude Juncker und Co. deutlich kleiner.
Publiziert: 14.10.2018 um 09:36 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2023 um 07:16 Uhr
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EU-Komissionspräsident Jean-Claude Juncker kämpft an mehreren Fronten.
Foto: AP
Johannes von Dohnanyi

Jetzt soll alles ganz schnell gehen: Schon am Montag soll die finale Brexit-Version soweit ausgearbeitet sein, dass sie den europäischen Staats- und Regierungschefs zwei Tage später zum Gipfeldinner serviert werden kann.

Die Zeit drängt. Ende November muss der Scheidungsvertrag zwischen London und Brüssel auf einem EU-Sondergipfel unterschrieben werden, damit die Parlamente aller 28 EU-Staaten dem Dokument dann noch rechtzeitig zum 29. März 2019 zustimmen können.

Erst dann kann das Vereinigte Königreich geordnet in die «Freiheit» entlassen werden.

Das Interesse am Gelingen eines solchen Deals ist auf beiden Seiten hoch. Vor allem die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals fürchtet nichts mehr als einen ungeregelten Brexit.

Was passiert auf der irischen Insel?

Doch der plötzliche Optimismus gleicht dem lauten Pfeifen im dunklen Wald: Denn nach wie vor gibt es keine belastbare Lösung der Nordirlandfrage.

Die im sogenannten Karfreitagsabkommen von 1998 geregelte Aufhebung der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland beendete den nordirischen Religionskrieg. Doch diese alte EU-Aussengrenze kommt mit dem Brexit zurück.

Und mit ihr das Ende des freien Austauschs von Waren und Dienstleistungen – und der Personenfreizügigkeit. Das kommt für Nordirlands katholische Minderheit nicht in Frage.

Brüssel hat der britischen Premierministerin Theresa May in den letzten Wochen wichtige Zugeständnisse abgerungen: Sollten sich Brüssel und London bis zum vereinbarten Ende der Übergangsfrist Ende 2020 auf kein neues Freihandelsabkommen geeinigt haben, wird das Königreich zunächst komplett in der europäischen Zollunion verbleiben.

Ausserdem soll Nordirland auf unbestimmte Zeit Teil des europäischen Binnenmarktes bleiben, um harte Grenz- und Personenkontrollen zwischen den beiden irischen Territorien zu vermeiden.

Die Brexit-Hardliner und Theresa Mays nordirischer Koalitionspartner DUP wittern Verrat. Sie fürchten eine heimliche EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens: Ohne Mitbestimmungsrechte, dafür aber mit allen, auch finanziellen, Pflichten.

Kommt es im Dezember im Londoner Unterhaus zum Schwur, dürfte der Deal nach heutigem Stand abgelehnt werden. Das Abkommen wäre geplatzt, die Regierung May am Ende – und ein chaotischer Brexit unvermeidbar.

Brexit

Am 23. Juni 2016 stimmte Grossbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union. Zur Zeit verhandeln die EU und das Vereinigte Königreich über die Austrittsbedingungen. Alle aktuellen Informationen gibt es immer hier.

Die EU-Aussen- und Europaminister entscheiden am späten Montagnachmittag in Brüssel, in welche EU-Länder die beiden zurzeit noch in London ansässigen EU-Agenturen umgesiedelt werden sollen. Dabei handelt es sich um die prestigeträchtigen EU-Arzneimittel- und die Bankenaufsichtsbehörde.
Nach Angaben der britischen Regierung soll der Austritt am 31. Oktober 2019 rechtskräftig werden.
KEYSTONE/AP/MATT DUNHAM

Am 23. Juni 2016 stimmte Grossbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union. Zur Zeit verhandeln die EU und das Vereinigte Königreich über die Austrittsbedingungen. Alle aktuellen Informationen gibt es immer hier.

Die Schweiz schaut genau hin

Der diplomatische Eiertanz um jedes Wort des Brexitvertrags wird in Bern genauestens beobachtet. Noch im Frühsommer hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker das mit der Schweiz anvisierte Rahmenabkommen als «Freundschaftsvertrag» gepriesen.

Gern hätte er die Vereinbarung vor der heissen Schlussphase der Brexit-Verhandlungen eingetütet. Der Widerstand der Gewerkschaften und mit ihnen der SP gegen jede Veränderung bei den Flankierenden hat durch diese Rechnung einen Strich gemacht.

Weil sich die Gespräche das Rahmenabkommen und den Brexit überlappen, ist der Kompromiss-Spielraum der EU-Kommission auf ein Minimum geschrumpft.

Jede vermeintliche Vorzugsbehandlung könnte nicht nur in London und Bern, sondern auch bei der EU-kritischen Regierung Italiens und einigen osteuropäischen Mitgliedern der Union eine Kettenreaktion der Begehrlichkeiten auslösen.

Juncker und sein Team stehen vor keinem geringeren Problem als der Quadratur des europäischen Kreises.

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