Nachdem ein Bundesrichter die sofortige Freilassung des 72-Jährigen angeordnet hatte, stoppte der Präsident des Gerichts am Sonntag die vorläufige Entlassung des Ex-Staatschefs wieder. Mit dem Machtwort beendete Gerichtspräsident Carlos Eduardo Thompson Flores ein stundenlanges Kompetenzgerangel zwischen mehreren Richtern. In den örtlichen Medien war von «juristischer Anarchie» die Rede.
Zunächst hatte Rogério Favreto, Bundesrichter aus Porto Alegre, einem Antrag auf einstweilige Verfügung stattgegeben und Lulas Freilassung aus dem Gefängnis in Curitiba angeordnet. Es gebe keine rechtliche Grundlage für seine Inhaftierung und Lula könne das Berufungsverfahren gegen sein Urteil in Freiheit abwarten, hiess es in seiner Entscheidung.
Lula verbüsst seit Anfang April eine zwölfjährige Freiheitsstrafe wegen Korruption. Er soll von einem Bauunternehmen die Renovierung eines Luxus-Appartements angenommen haben. Lula weist die Vorwürfe zurück. Er sieht sich als Opfer einer Verschwörung rechter Politiker, der Justiz und der Medien und bezeichnet sich selbst als politischen Gefangenen.
Fast wäre der Befreiungsplan von Lulas linker Arbeiterpartei aufgegangen: Mehrere Abgeordnete hatten den Antrag auf einstweilige Verfügung am Freitagabend gestellt, als der Bereitschaftsdienst des der Partei wohlgesonnenen Richters Favreto begann. Als der Jurist dem Antrag am Sonntagmorgen statt gab, feierten Lulas Anhänger bereits ihren Sieg.
Was folgte, war ein juristischer Schlagabtausch: Zunächst meldete sich Sergio Moro zu Wort, jener Strafrichter am Bundesgericht in Curitiba, der Lula verurteilt hatte. Das Gericht in Porto Alegre verfüge nicht über die notwendige Kompetenz, um die Haftstrafe gegen den Ex-Präsidenten auszusetzen, erklärte er.
Der für den Prozess zuständige Richter João Gebran Neto kassierte daraufhin die Entlassung von Brasiliens prominentestem Häftling umgehend. Die Polizei solle Lula nicht auf freien Fuss setzen, bis er den Fall geprüft habe, entschied der Jurist. Favreto verfasste eine weitere Entscheidung und befahl der Polizei, Lula binnen einer Stunde frei zu lassen.
Da wurde es Gerichtspräsident Flores zu bunt. Er trennte die Streithähne in Roben und entschied, dass die Kompetenz beim zuständigen Richter Gebran liege. Lula bleibt zunächst also hinter Gittern. Abgeordnete seiner Arbeiterpartei sprachen daraufhin von «Freiheitsberaubung». Die Gruppe Anwälte für die Demokratie stellte Strafanzeige gegen Richter Moro.
Der Machtkampf der Richter hat entscheidenden Einfluss auf die politische Zukunft der grössten Volkswirtschaft Lateinamerikas. Lula will bei der Wahl im Oktober erneut für das höchste Staatsamt kandidieren. In den Umfragen liegt er deutlich vorn. Auf dem zweiten Platz folgt der ultrarechte Ex-Militär Jair Bolsonaro. Der «Trump Brasiliens» verherrlicht die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 und hetzt gegen Homosexuelle.
In der Zelle in Curitiba hielt sich die Enttäuschung in Grenzen. Lula selbst hatte offenbar ohnehin nicht an seine Freilassung geglaubt. «Er hat gelächelt, wie er immer lächelt. Aber er hat nicht geglaubt, dass sie ihn freilassen», sagte der Abgeordnete Wadih Damous, der am Sonntag bei ihm war. «Er hat gefragt: Glaubt ihr wirklich, sie lassen mich so einfach gehen?»