Es ist Mittwochnachmittag. Wir sitzen in einer der oberen Etagen des Hotels Bellevue Palace in Bern auf dem Flur. Ein Bodyguard mit Knopf im Ohr steht an der Wand. Die Mitarbeiter von Evo Morales gehen in der Präsidentensuite ihres Chefs hektisch ein und aus. Alle flüstern. «Der Präsident schläft», erklärt uns die bolivianische Kommunikationsverantwortliche. Eine Tour durch Europa in wenigen Tagen geht offenbar auch an einem Staatsoberhaupt nicht spurlos vorbei. Wir müssen warten. Das kommt uns aber nicht ungelegen. So können wir uns nochmals die Fragen für das Interview zurechtlegen. Denn die Vorbereitung für das Treffen mit dem feurigen Klassenkämpfer verlief ziemlich chaotisch. Vor zehn Tagen kam die Zusage der bolivianischen Botschaft in Deutschland. Morales sei bereit, dem SonntagsBlick am Rande des Arbeitsbesuchs in der Schweiz ein Interview zu geben. Letzten Montag dann die Enttäuschung: Morales habe nun doch keine Zeit. Das Interview sei abgesagt.
Am Mittwochmorgen um 8.30 Uhr kommt es wieder anders: Das Gespräch könne nun doch stattfinden. Ab 12.30 Uhr müssten wir in Bern bereit sein. Also in vier Stunden.
Schliesslich werden wir um 15 Uhr in der Lobby des Bellevue Palace abgeholt. Eine schweigsame Stunde später bittet man uns ins Zimmer. Evo Morales kann nicht ganz verbergen, dass er vor wenigen Minuten noch ein Nickerchen gemacht hat. Mit ernster Miene schüttelt uns der Präsident die Hände. Euphorie sieht anders aus. Erst im Verlauf des Gesprächs taut der überzeugte Sozialist und ehemalige Kokabauer auf.
BLICK: Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen für uns. Wie gefällt es Ihnen in der Schweiz?
Evo Morales: Es ist sehr kalt. Aber nicht so kalt wie in den bolivianischen Hochebenen. Im Gegensatz zu hier ist es dort nicht feuchtkalt, sondern sehr trocken. Und mit der Klimaerwärmung wurde alles noch schlimmer.
Haben Sie Zeit, um sich die Schweiz ein bisschen anzuschauen?
Nein, ich bin ja nicht lange hier. Aber ich war früher schon in Genf bei den Vereinten Nationen und in Zürich bei der Fifa. Jetzt also Bern. Ich mag die Schweiz. Besonders im Winter wegen des wunderschönen Schnees.
Sie sind aber nicht zum Spass hier, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Morgen treffen Sie unsere Bundespräsidentin Doris Leuthard und unterschreiben mit der Schweiz eine Absichtserklärung für den Bau des Bahnprojekts Tren Bioceánico. Warum mit der Schweiz?
Es gibt diesbezüglich zwei Vorschläge, einen chinesischen und einen europäischen. Aber bei technischen Dingen halten wir uns lieber an die Europäer. Deren Produkte sind qualitativ besser und langlebiger. Die Schweizer Bahnindustrie hat einen sehr guten Ruf. Aber im Grunde geht es um mehr als das. In Bolivien hatten wir eine grosse soziale und ökonomische Befreiung. In den letzten Jahren haben wir acht Milliarden Dollar staatliche Investitionen getätigt. 2005 waren es pro Jahr erst 629 Millionen. Alles dank der Verstaatlichung der Industrie. Was uns aber noch fehlt, ist die eigene Technologie. Wir sind diesbezüglich auf Asien, Europa und auch ein bisschen auf Nordamerika angewiesen.
Sie sind also nicht nur wegen des Tren Bioceánico in Europa?
Nein, er ist nur eine Sache. In Deutschland sind wir zum Beispiel wegen geothermischer Kraftwerke mit Siemens im Gespräch. Auch mit anderen Ländern tauschen wir uns aus. Lateinamerika und Europa haben noch viel Arbeit vor sich. Es gibt viel zu bereden.
Zum Beispiel?
Wir erinnern uns an die 500 Jahre der Unterdrückung und Ausbeutung. Wir erinnern uns an die Kolonialisierung, für die ihr verantwortlich seid. Es geht nicht, dass die Europäer wie früher kommen und sagen: «Du Armer, ich schenke dir was.» Wir sind zwar neidisch auf die technologische Entwicklung Europas. Und ich hätte gerne, dass die südamerikanische Technologie so weit wäre. Aber trotzdem reden wir auf Augenhöhe! Wir hoffen, dass die Europäer mit ihrer Technologie der ganzen Menschheit mehr Wohlstand bringen. Im Gegensatz zu den USA, wo es bei der technologischen Entwicklung immer nur um Waffen geht. Waffen, Waffen, Waffen. Sie sind ein Synonym für den Tod.
Waren die USA mit Barack Obama für Sie anders als mit Donald Trump?
Nein. Ob die Republikaner oder die Demokraten gewinnen, spielt keine grosse Rolle. Das ist alles das Gleiche. Klar, jetzt ist es radikaler, faschistischer, rassistischer. Ich weiss nicht, ob Trump ein gesundheitliches Problem hat. Wie kann man nur ein Abkommen kündigen, das Mutter Erde schützen will wie das Pariser Abkommen? Trump ist ein Präsident, ein Mensch, der das Land spaltet. Aber eben: Am Schluss kommt es auf das Gleiche heraus. Denn Obama hat viel unterschrieben, aber wenig umgesetzt.
Sie waren früher Kokabauer. Wir haben einen Bundesrat, der Kokain legalisieren will – unser neuer Aussenminister Ignazio Cassis. Wie denken Sie darüber?
Wir Bolivianer teilen die Kultur des Kokains nicht. Wir teilen die Kultur der Koka. Das Kokablatt in seinem natürlichen Zustand ist Nahrung und Medizin. Persönlich bin ich nicht der Meinung, dass man Kokain legalisieren sollte. Bei uns ist das eine Droge, die Schaden anrichtet und die wir bekämpfen.
Könnte man so nicht den Schmuggel und die Drogenhändler besser bekämpfen?
Das wahre Problem ist ein anderes: Wo immer das nordamerikanische Imperium ist, wird mehr Kokain produziert, es gibt mehr Koka-Pflanzen – und damit auch den Drogenschmuggel.
Sie sind ein bekannter Kapitalismuskritiker. Wie fühlt man sich da im Bankenland Schweiz?
Ich weiss ja nicht, wie es in der Schweiz und in Deutschland ist. Aber in den USA lassen sie die Leute wählen und am Schluss – egal, ob die Demokraten oder Republikaner gewinnen – regieren die Banker. Schuld ist das Volk, welches das akzeptiert. Warum gibt es so viel Armut? Warum gibt es so viele Naturkatastrophen in letzter Zeit? Schuld ist der Kapitalismus. Schaut euch an, wie es in Libyen aussieht nach der Intervention des Westens ...
Aber auch sozialistische Länder haben schon Kriege geführt.
Ich frage euch: Ist es in Libyen jetzt besser als mit Gaddafi? Schaut euch die Länder in Afrika an: keine Wirtschaft, kein Staat. Schuld ist der Kapitalismus. Oder seht euch an, was sie mit dem Irak gemacht haben. Dabei gäbe es genug Reichtum für alle. Ihr seid noch jung. Aber ich weiss das, ich bin ja schon 58 Jahre alt. Ich könnte euer Vater sein. Auch wenn mich die Damen immer jünger schätzen. Das liegt daran, dass ich so viel Sport treibe (lacht).
Sozialistische Länder haben auch so ihre Probleme – zum Beispiel Korruption.
Die Korruption haben die Europäer in Bolivien zurückgelassen! Schaut nur einmal, wer bei Kolumbus mit dem Boot kam: Verbrecher. Sie schickten Delinquenten, um uns zu kolonisieren. Sie brachten nicht die Zivilisation, eher die Syphilisation. Aber ja, wir bekämpfen die Korruption. Wir sind immer dran. Das ist unser koloniales Erbe.
In Europa kritisieren viele Leute, dass Sie länger im Amt bleiben wollen, als es die Verfassung vorsieht. Was sagen Sie dazu?
Das ist eine grosse Lüge. Viele Leute in Europa sind einfach nicht richtig informiert. Kritisiert ihr auch, dass Merkel schon so lange im Amt ist?
Die Leute haben Angst, dass dies ein Schritt weg von der Demokratie hin zu einer Diktatur ist.
Nein, das stimmt nicht. Das ist eine ganz schlechte Aussage. Die Leute dürfen ja abstimmen. Diktatur wäre, wenn man die Macht mit Waffengewalt übernehmen würde. Wir ändern die Verfassung übrigens nicht, wie geschrieben wird. Wir wenden die Verfassung an. Schreibt das! (Er wendet sich an seinen Betreuerstab.) Hat jemand die Verfassung dabei? Sucht Artikel 12 und 13.
Nochmals zurück zum Tren Bioceánico: Wieso ist dieses Projekt für Bolivien so wichtig?
Vom Tren Bioceánico profitiert nicht nur Bolivien, sondern die Hälfte der südamerikanischen Länder. Mit dem Schiff dauert es fast zwei Monate, um den Kontinent südlich zu umschiffen – bei gutem Wetter. Nördlich via Panamakanal dauert es sogar noch länger. Mit dem Zug wird das Ganze nur noch 38 Tage dauern und weniger Kosten verursachen.
Unten in der Lobby des Hotels haben wir Peter Spuhler gesehen, den Chef von Stadler Rail. Gab es schon Gespräche mit dem Unternehmen?
(Morales schaut zu Infrastrukturminister Milton Claros, der ebenfalls im Raum ist. Dieser klärt seinen Präsidenten auf.) Stadler ist das Schweizer Unternehmen, das Züge produziert. Wir analysieren gerade, ob wir von Stadler Züge kaufen oder von jemand anderem. Aber sie haben ihr Interesse angemeldet.k
Nach der Schweiz reisen Sie weiter nach Italien, genauer gesagt nach Rom, um den Papst zu treffen. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?
Ich habe grossen Respekt für Papst Franziskus. Er ist solidarisch, setzt sich für die Armen ein und zeigt grosses menschliches Einfühlungsvermögen. Ich habe in Papst Franziskus einen Bruder gefunden.
Ist Papst Franziskus wichtig für die Politik in Südamerika?
Das weiss ich nicht. Aber er ist natürlich wichtig für alle Katholiken auf der Welt. Er gibt dem Christentum ein neues Gesicht.
Herr Präsident, vielen Dank für das Interview.
Vor fünf Wochen machte SonntagsBlick publik, dass der bolivianische Präsident Evo Morales in die Schweiz kommt. Letzten Donnerstag war es so weit: Morales traf sich in Bern mit Bundespräsidentin Doris Leut-hard. Das zentrale Thema des Arbeitsbesuchs war der Tren Bioceánico. Die geplante Bahnstrecke von mehr als 3750 Kilometern soll von Brasilien über Bolivien nach Peru führen und den Atlantik mit dem Pazifik verbinden. Bolivien und die Schweiz haben nun eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit beim Bau des Jahrhundertprojekts unterschrieben. Die Schweizer Bahnindustrie freut sich über den offiziellen Support des Bundes. Die Bähnler hoffen, dass sie dadurch bessere Chancen haben, für den Bau des Tren Bioceánico Aufträge zu erhalten.
Vor fünf Wochen machte SonntagsBlick publik, dass der bolivianische Präsident Evo Morales in die Schweiz kommt. Letzten Donnerstag war es so weit: Morales traf sich in Bern mit Bundespräsidentin Doris Leut-hard. Das zentrale Thema des Arbeitsbesuchs war der Tren Bioceánico. Die geplante Bahnstrecke von mehr als 3750 Kilometern soll von Brasilien über Bolivien nach Peru führen und den Atlantik mit dem Pazifik verbinden. Bolivien und die Schweiz haben nun eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit beim Bau des Jahrhundertprojekts unterschrieben. Die Schweizer Bahnindustrie freut sich über den offiziellen Support des Bundes. Die Bähnler hoffen, dass sie dadurch bessere Chancen haben, für den Bau des Tren Bioceánico Aufträge zu erhalten.