Blutige Proteste in Nicaragua – Schweizer berichtet vor Ort
«Es könnte jede Minute eskalieren»

Seit April sterben in Nicaragua fast täglich Demonstranten bei brutalen Strassenkämpfen. Mittendrin ist der Zūrcher Marco Neukom (34). Wie viele andere Ausländer und Touristen wird er wohl bald flüchten müssen.
Publiziert: 23.06.2018 um 15:04 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2019 um 13:48 Uhr
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Im Januar kam Marco Neukom (34) in Nicaragua an. Bis vor wenigen Wochen war der Schweizer dort glücklich.
Foto: Leserreporter
Helena Schmid

Eigentlich wollte sich der Zūrcher Marco Neukom (34) in Nicaragua etwas aufbauen. Seit zwei Jahren reist er um die Welt. Australien, Asien, Amerika – mit seiner Freundin aus Mexiko liess sich Neukom schliesslich im Januar in Las Peñitas an der nicaraguanischen Westküste nieder. Ein Hotel stellte die beiden ein. Seine Freundin stieg zur Managerin auf, er half. «Bis vor kurzem lief alles super», sagt Neukom zu BLICK.

Vor zwei Wochen änderte sich das: Bewaffnete Demonstranten stellten Strassensperren auf, die Regale im Laden wurden leergefegt, Hotels und Restaurants machten reihenweise dicht. 

Hunderte Tote bei blutigen Protesten 

Seit April 2018 herrscht Chaos in Nicaragua. Die Strassen der Städte sind Schauplatz von blutigen Protesten. Auslöser war eine geplante Rentenreform: Die Bevölkerung sollte mehr bezahlen, aber weniger Rente erhalten, um die Staatskasse zu entlasten. 

Die anfänglichen Demonstrationen gegen die Reform richteten sich schnell gegen den autoritär regierenden Präsidenten Daniel Ortega (72). Dieser zog die Reform nach wenigen Tagen wieder zurück. Doch da war es zu spät. Bei Strassenkämpfen zwischen Demonstranten, Polizisten und Regierungs-Unterstützern kamen bisher fast 200 Menschen ums Leben. Die Zahl steigt von Tag zu Tag.

Von den Protesten bekommt Marco Neukom im kleinen Las Peñitas wenig mit, sie finden eher in den grösseren Städten statt. Trotzdem hätten die Bewohner Angst. «Man weiss, es könnte jede Minute eskalieren», sagt der 34-Jährige. Touristen und Ausländer hätten die Stadt schon lange verlassen. Auch Neukoms Arbeitgeber wollten das Land verlassen. «Sie haben ein Baby, fliehen bald nach Costa Rica», sagt er weiter.

Überfälle und Feuerangriffe häufen sich

Die Hotel-Schliessung trifft auch die Schweizer: Sie werden ihren Job wohl verlieren. «Es kommen keine Touristen mehr, auch keine Lieferanten. Sie kommen alle nicht mehr durch oder haben Angst.»

In vielen Regionen herrscht Kriegszustand: Demonstranten errichteten Strassensperren. Bewacht werden sie von Vermummten mit Waffen. Sie wollen sich so vor Polizisten schützen und ihre Dörfer abriegeln. 

In grösseren Städten wie Masaya südlich der Hauptstadt Managua oder León im Westen kommt laut örtlichen Medien die staatliche Polizei deshalb nicht mehr ins Stadtinnere. «Jetzt häufen sich die Überfälle und Feuerangriffe. Wenn es dunkel wird, sollte man nicht mehr auf den Strassen unterwegs sein», sagt Neukom.

Neben Polizisten kommen auch Versorgungstrucks nicht mehr durch. Milchprodukte und Fleisch, so der Zürcher, sei nicht mehr erhältlich. «Es ist deprimierend. Das Dorf stirbt mehr und mehr aus.»

«Wir haben noch ein bisschen Hoffnung»

Mitte Juli suchten die Demonstranten den direkten Dialog mit dem Präsidenten. Ortega willigte überraschend ein. Bei den Verhandlungen am Freitag stimmte er sogar zu, eine unabhängige Kommission zu gründen, die Todesfälle bei Demonstrationen untersuchen soll. Der erste Funken Hoffnung nach zwei Monaten Unruhe.

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Bei Unruhen in Nicaragua sind erneut Menschen gestorben.
Foto: Cristobal Venegas

Der erlosch aber schnell wieder, als die Verhandlungen am Montag abgebrochen wurden. Und dann am Mittwoch die Krawalle weitergingen. Neukom: «Wir wissen nicht, wie es jetzt weitergeht. Wird es besser? Oder nicht?»

Der Zürcher und seine Freundin müssen sich nun entscheiden, ob sie ebenfalls das Land verlassen möchten. Viel hält sie nicht mehr in Nicaragua. «Aber wir haben noch ein bisschen Hoffnung, dass sich die Lage bessert und wir das Hotel wieder öffnen können», sagt Neukom.

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