BLICK vor Ort: So ist die Stimmung jetzt in Israel
«Spannungen gehören zum Alltag in Jerusalem»

Die Palästinenser schwingen wütend die Fäuste, die Israelis sind gespalten. Was hält man von Trumps Jerusalem-Entscheid? Und wird er zum Startschuss der dritten Intifada?
Publiziert: 08.12.2017 um 18:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:56 Uhr
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BLICK-Reporterin Joëlle Weil berichtet aus Israel über die Stimmung nach Trumps Jerusalem-Entscheid.
Foto: BLiCK
Joëlle Weil

Nachdem Donald Trump seinen Entscheid verkündet hatte, die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen und die Stadt als Hauptstadt Israels zu anerkennen, kam es zu hitzigen Reaktionen. Überrascht hat das keinen. Denn niemand war so naiv zu glauben, die palästinensische Autonomiebehörde würde der Bitte des US-Präsidenten nachkommen, Ruhe zu bewahren.

In Ramallah, Bethlehem und Hebron gerieten am Donnerstag palästinensische Demonstranten und die israelische Armee heftig aneinander. Dutzende Menschen wurden verletzt, wie viele genau blieb bis spät in die Nacht ungeklärt. Dabei verliefen die Demonstrationen bis anhin noch verhältnismässig moderat, wenn man sie mit den scharfen Worten arabischer Anführer vergleicht.

Schulen schliessen, damit Schüler demonstrieren können

Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah verkündete in seiner Rede am Donnerstag, er würde eine dritte Intifada unterstützen. Aus dem Gazastreifen – wo Tausende auf die Strassen zogen – rief Hamas-Führer Ismail Haniyeh zur neuen Intifada auf und erklärte den Freitag zum «Tag des Zorns». Nicht nur Läden, auch Schulen blieben in der Westbank und in Ostjerusalem am Donnerstag geschlossen, damit auch die Jüngsten auf den Strassen ihren Unmut kundtun konnten.

Am frühen Abend wurden von Gaza aus drei Raketen in Richtung Israel abgefeuert, zwei landeten noch im Gazastreifen selbst, die dritte erreichte offenes Gelände in der Nähe des Kibbuz Be’eri, verkündete die israelische Armee. Israel reagierte militärisch: Zwei Ziele der Hamas wurden angegriffen.

Netanyahu urteilt, Trump habe Geschichte geschrieben

Auch die israelische Regierung hat es sich auf die Fahnen geschrieben, ihre Macht zu demonstrieren, und bewilligte unter Bauminister Yoav Galant 14’000 neue Wohneinheiten, unter anderem in Ostjerusalem und in der Nähe von Ramallah. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu richtete in einer Videobotschaft stolze Worte an «meinen Freund, den Präsidenten». Dieser habe Geschichte geschrieben.

In der Region fragt man sich: Findet gerade die dritte Intifada statt? Sie wird immer wieder herbeigeschworen und vor allem von der israelischen Bevölkerung schon fast erwartet. Erst im Sommer, während der Ausschreitungen um den Tempelberg, stand für viele Israelis und auch für Palästinenser fest: Das wird der Startschuss des dritten grossen palästinensischen Aufstands. Doch er blieb aus. Ob er jetzt tatsächlich kommt, kann trotz angeheizter Stimmung noch nicht abschliessend beurteilt werden. 

Einheit bei den Palästinensern, Spaltung bei den Israelis

Während die meisten Palästinenser aufgebracht sind, ist die israelische Bevölkerung gespalten. Während die einen Trumps Entscheidung als Sieg und historisch wertvoll betrachten, kritisieren andere den US-Präsidenten scharf. Dass hier eine Macht- und Ego-Demonstration auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen werde, ist ein Gefühl, das viele Israelis seit Mittwoch teilen. Mit seinen Worten habe Trump nur Öl ins Feuer gegossen.

Die Stimmung im Land bleibt in weiten Teilen aber ruhig. Ausser an den Brennpunkten liessen sich die Menschen in Jerusalem nicht aus dem Alltag reissen.

Der Basler Schmuel Kahn (29) lebt seit sieben Jahren in der Stadt und arbeitet als Reiseführer. «Bis anhin fühlt es sich nach einem normalen Freitag in Jerusalem an: Die Juden bereiten sich auf den Sabbat vor, Moslems machen sich auf den Weg zum Freitagsgebet, und Katholiken treffen sich für Mariä Empfängnis. Ich war am Freitag frühmorgens auf dem Markt, der war wie immer voller Menschen. Auch die Kaffeehäuser sind gut besucht, ich spüre keine Anspannungen.» 

«Spannungen gehören zum Alltag in Jerusalem»

Das wöchentliche Freitagsgebet ist ein fester Termin für palästinensische Demonstranten, die sich nicht um Zurückhaltung bemühen, wenn sie den israelischen Soldaten gegenüberstehen. Der Fatah-Politiker Naser Al-Qudwa ist ein enger Vertrauter von Fatah-Chef Mahmoud Abbas. Er fordert die Palästinenser auf, friedlich zu demonstrieren. Eine Bitte, die wohl ungehört bleiben wird. Davon geht auch der Schweizer Schmuel Kahn aus: «Man weiss in Jerusalem, dass Demonstrationen am Freitag jeweils neue Intensität erreichen können. Doch Spannungen gehören zum Alltag Jerusalems und irritieren deshalb kaum einen.» Tatsächlich ist es heute Nachmittag im Gazastreifen, in Ramallah und in Bethlehem zu gewalttätigen Demonstrationen gekommen (BLICK berichtete).

Die Stellung der Schweiz

Die internationale Kritik an Trump ist gross, und auch die Schweiz kritisiert in einer offiziellen Stellungnahme den US-Präsidenten. «Die Schweiz hat den Status quo der heiligen Stätten von Jerusalem respektiert», heisst es in einem Schreiben des Aussenministeriums. «Die Schweiz betrachtet diese Entscheidung als Verletzung des Genfer Abkommens von 1949 und als Verletzung des Völkerrechts.» Natürlich werde die Schweiz ihre Botschaft weiterhin in Tel Aviv belassen. Weiter rufe man zur Ruhe auf und spreche sich gegen Gewalt aus.

Gleichzeitig wurde am Donnerstag bekannt, dass auch die Philippinen und Tschechien mit dem Gedanken spielen, ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen. Tschechien habe sich diesen Schritt bereits vor vier Jahren überlegt, sagte Staatspräsident Milo Zeman in einem Interview.

Ob die Befürchtungen zutreffen und worauf man sich in naher Zukunft in Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten gefasst machen muss, werden die kommenden Tage zeigen.

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