Englischer als in Southend-on-Sea wird es kaum. Sicher 80 Prozent der 177'000 Einwohner sind stolz auf ihre ausschliesslich englische Herkunft. Die meisten verbrachten ihr ganzes Leben hier. Ausländer sieht man selten.
Gespräche beginnen mit einem Wehklagen über das feuchte Wetter. Am Stadtrand bieten Mini- und Land-Rover-Händler Autos feil. Abgetakelte Reihenhäuser säumen die Strassen. Fisch und Chips ist die Leibspeise. Nicht der Union Jack flattert hier, sondern die Flagge Englands – und in vielen Fenstern Schilder, auf denen «Vote Leave» geschrieben steht.
Die Schilder rufen die Briten auf, heute für einen Exit aus der EU zu stimmen. Für einen Brexit.
«Die EU bringt uns nichts, wir geben der EU alles»
Ja, sagt Joan Tiney, sie wolle die Europäische Union «so schnell wie möglich verlassen». Tiney trägt ein grasgrünes Leibchen mit der Aufschrift «Leave» – Verlassen. Sie führt einen Pub an der Küste, wo sich Touristen aus dem 70 Autominuten entfernten London gerne vergnügen. Eben hat sie abgestimmt. Natürlich: «Leave». «Die EU bringt uns nichts, wir geben der EU alles», sagt sie.
Ziehe ein Engländer nach Spanien, erhalte er nichts vom Staat. «Kommen EU-Bürger zu uns, können sie gratis zum Arzt, erhalten Arbeitslosengeld, gehen aufs Sozialamt.» Ihre Enkelin wohne in London. «In ihrer Klasse lernen 30 Kinder in einem Schulzimmer – die Mehrheit spricht kein Englisch, das muss sich wieder ändern.»
Fast alle Kunden, die sich bei ihr ein Pint genehmigten, würden «Leave» stimmen, sagt Tiney. Und doch glaubt sie: «Wir bleiben in der EU – unsere Regierung lässt uns gar nicht raus.» Sie erhebt schlimme Vorwürfe: «Diese Abstimmung ist doch gefälscht, die wissen doch schon lange, dass wir drin bleiben.»
«Selber darüber bestimmen, wer draussen bleiben muss»
Ähnlich tönt Nigel (48), arbeitslos. Er trinkt ein helles Bier im Glas. «Leave» habe er gestimmt. «Aber meine Stimme wird sicher nicht gezählt.» Dabei sei es «doch besser für die Arbeiter, wenn wir raus gehen, die Ausländer nehmen uns die Jobs weg».
Christine Messenger (69) wuchs in Southend-on-Sea auf, lebte in London, zog dort eine Familie gross und lebt jetzt von der Rente in ihrer Heimatstadt. Sie verlässt das Wahllokal im Stadthaus. «Es ging rasch», erzählt sie. «Der Andrang hielt sich in Grenzen.»
Klar habe sie «leave» gestimmt, sagt Messenger. «Wir Engländer müssen wieder selber darüber bestimmen, wer reinkommt und wer draussen bleiben muss.»
Apokalyptische Szenarien der Ökonomen habe sie nicht eingeschüchtert. «Klar, ein Brexit würde uns durchschütteln», sagt Messenger. «Aber wir Engländer haben schön grössere Desaster überlebt.»
Messenger ist überzeugt: «Wir haben die anderen Europäer aufgeschreckt. Unsere Abstimmung könnte einen Domino-Effekt auslösen, andere werden sich auch über die EU abstimmen wollen.»
«Ein Austritt ist viel zu gefährlich»
Gleich nach ihr verlässt Sarah Sand (46) das Stimmlokal. Sie hat «Remain» gestimmt, will in der EU bleiben. «Wir müssen das bewahren, was wir kennen – ein Austritt ist viel zu gefährlich.» Sie habe die Medien als gehässig erlebt, nicht aber das Stimmvolk. «Die Debatten waren sehr leidenschaftlich, und das ist gut.»
Weil die Schule seiner Kinder als Stimmlokal benutzt wird, ist der Londoner Handwerker Karl Sanson (43) mit seiner Familie nach Southend-on-Sea gefahren. Er will in der EU bleiben. «Weil ich den Leuten nicht vertraue, die raus wollen.» Insbesondere Boris Johnson (52). Der ehemalige Bürgermeister von London interessiere sich nur für sich selber. «Was Boris will, will ich nicht.»
Die Brexit-Abstimmung ist das dritte nationale Referendum in der Geschichte Grossbritanniens. Zweimal ging es um die EU, einmal um das Wahlverfahren bei Parlamentariern. Erstmals könnte der 18-jährige William Wallace abstimmen. Er putzt für Southend-on-Sea den Steg entlang Küste – und bleibt der Urne bewusst ferne. «Es ändert doch nichts, was ich stimme.»
Das muss die britischen Politiker wohl am meisten aufschrecken.