Der grösste Hörsaal ist rappelvoll, als Wolodimir Selenski (44) am Donnerstagnachmittag an der Uni Zürich spricht. Der ukrainische Präsident nimmt sich mitten im Krieg gegen Russland eine Stunde Zeit, um mit den Studierenden und zahlreichen Besuchern über den Krieg und dessen Auswirkungen zu sprechen. Weil Selenski nicht ausreisen kann, wird er aus der Ukraine per Videostream zugeschaltet.
Trotz anhaltender Tonprobleme, die sowohl im Saal als auch bei Selenski selbst immer wieder für Lacher sorgen, gibt sich der Ukraine-Präsident gut gelaunt. Das bemerkt auch der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr (64). Er will wissen, wie Selenski trotz des Krieges immer noch so optimistisch sei und auch lachen könne. Selenski sagt, dass vor allem der unermüdliche Kampf seiner Landsleute ihn optimistisch stimme, genauso wie die Unterstützung aus Europa und dem Rest der Welt. . «Auch die Fragen von euch, von Ihnen, stimmen mich positiv. Die Menschen, die mich umgeben, inspirieren mich – das freut mich.» Die Zuhörenden im Saal klatschen begeistert.
Referenden ändern nichts
Dann wird es ernst: Ein Student will wissen, ob Selenski für die Geschehnisse die russische Führung oder die gesamte russische Bevölkerung verantwortlich mache. «Am Ende wurde die Regierung von der Bevölkerung gewählt. Wenn die Leute nicht einverstanden wären mit der Politik, dann hätten sie diese Regierung nicht gewählt», so Selenski. Die russische Bevölkerung habe monatelang weggeschaut – und tue es immer noch. «Wenn Putin sagt, dass er auch Nuklearwaffen benutzen könne, sehe ich keine Massenproteste in Russland. Das zeigt mir, dass es tiefgreifende Probleme gibt», so der ukrainische Präsident.
Die Scheinreferenden, die Anfang Woche in den besetzten ukrainischen Gebieten abgehalten wurden, änderten nichts an der Arbeit der Ukraine. Auch wenn am Freitag die Gebiete von Russland annektiert würden, gibt sich Selenski kämpferisch. «Wir machen weiter, und unsere Antwort wird stark sein».
Russland bleibt auch nach dem Krieg der grösste Nachbar der Ukraine. Wie solle das funktionieren, will ein Student wissen. «Das wird von Russland abhängen», sagt Selenski. Man könne auch nach einem Krieg nebeneinander leben – aber nicht mehr mit den gleich guten Beziehungen. Nach einem Krieg könne man nicht einfach auf den Nachbarn zugehen und ihm die Hand schütteln. «Es geht nicht um das Sorry, sondern um die Anerkennung der eigenen Fehler.»
«Kindheit gestohlen»
Dann fällt auch die Frage, was Selenski seinen Kindern nach dem Krieg erzählen wird. Der 44-Jährige hat eine klare Antwort, sagt, es gebe keine Kinder mehr. «Mein Sohn ist neun Jahre alt. Dieser Krieg hat ihn verändert. Er spricht nicht mehr über Spielzeuge – er spricht über erwachsene Sachen. Alle Eltern in der Ukraine erleben das. Ihre Kinder fragen sie: ‹Wann stirbt Präsident Putin?› Das ist nicht gut. Russland hat unseren Kindern die Kindheit gestohlen.»
Zum Schluss wird der ukrainische Präsident emotional, spricht über seine Bindung zur Schweiz. Der ukrainische Präsident erinnert sich, dass er einst am Genfersee gestanden sei. Diesen Moment habe er in bester Erinnerung. «Ich liebe die Ukraine, aber dieser Moment war wunderschön. Ich realisierte, dass ich die Ukraine so sehr liebe – ich würde alles tun, um Veränderungen herbeizuführen. Ich würde alles geben, damit wir wie die Schweiz leben können», so Selenski, ehe er sich verabschieden muss – nicht ohne noch zu scherzen, dass er aufgrund des ausgefallenen Übersetzers sein Englisch habe trainieren können. «Machts gut», sagt Selenski, «ich wünsche euch alles Gute – und Frieden!» Der Hörsaal verabschiedet ihn unter tosendem Applaus.