Aleksandar Vucic (54) sitzt mit ernster Miene in der Bibliothek seines Präsidentenpalasts. Von draussen dringt das Trällern Hunderter Pfeifen herein. Demonstrierende blockieren gerade eine von Belgrads Verkehrsachsen. Die Menschen in den angrenzenden Blocks öffnen ihre Fenster, winken ihnen zu. Eine Szene, wie sie sich derzeit täglich wiederholt.
Ihr Lärm kümmert Präsident Vucic derweil wenig. Er spricht langsam, überlegt, schaut oft zu Boden. Von sich selbst sagt er: «Ich bin nicht einfach zu mögen.»
Als er 2017 die Präsidentschaft übernahm, traf ihn Blick zum Interview. Damals versprach er eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts: «Auch wenn die Serben dazu noch nicht bereit sind: Ich werde nicht nachgeben.» Zeit, um nachzufragen.
Herr Vucic, 2017 haben Sie sich im Interview mit Blick als Friedensstifter präsentiert. Was ist davon übrig geblieben?
Aleksandar Vucic: Wir haben Frieden. Entgegen der Anschuldigungen aus dem Westen nach Beginn des Krieges in der Ukraine: Auch Schweizer Medien behaupteten, wir seien Putins Marionetten und würden neue Kriege auf dem Balkan anzetteln. Natürlich ist es dazu nicht gekommen.
Sie haben Truppen an die Grenze zum Kosovo geschickt, und die Menschen hier oder auf dem Balkan haben Angst vor einem neuen Krieg. Wie wurden Sie zum Brandstifter?
Es gibt keine Grenze zwischen Serbien und Kosovo – gemäss unserer Verfassung und der Uno-Charta. Heute reden die europäischen Staaten über die territoriale Integrität der Ukraine. Als es um Serbien ging, haben sie dieses Prinzip verstossen. Folglich wurden unsere Leute im Kosovo verfolgt und vertrieben. Und trotzdem führen wir keinen Krieg.
In der Schweiz leben Menschen aus dem Kosovo und aus Serbien friedlich miteinander. Warum ist das hier auf dem Balkan nicht möglich?
Wir leben in Frieden. Doch einander mögen – das ist eine andere Sache. Wir haben unterschiedliche politische Interessen, das ist halt so.
Die Schweiz engagiert sich schon sehr lange im Kosovo. Wie sehen Sie unsere Rolle?
Leider hat die Schweiz als eines der ersten Länder die Unabhängigkeit des Kosovos anerkannt – entgegen dem Völkerrecht! (Laut Internationalem Gerichtshof war die Anerkennung rechtens, Anm. d. Red.). Trotzdem haben wir eine gute Zusammenarbeit und hoffen, mehr Schweizer Unternehmen, Geschäftsleute und Touristen anzulocken.
Auf dem Weg hierhin lief ich an Demonstranten vorbei. Was würden Sie Ihnen sagen?
650 Demonstranten waren es, wenn ich mich nicht irre. Was soll ich sagen? Seit ich angefangen habe, erlebe ich immer wieder Proteste. In Serbien ist das ganz normal. Und wir bewältigen das auf friedliche Art, ohne Polizei und Gewalt. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern.
Doch diese Proteste sind grösser als sonst.
Nein, es gab schon grössere.
Aber verstehen Sie, warum die Demonstrierenden jetzt frustriert sind?
Ja. Ich kann Emotionen verstehen, politische Interessen, ausländische Interessen.
Sogar Djokovic distanziert sich. Schmerzt das?
Er hat sich nicht von mir distanziert. Er hat die Studenten unterstützt. Ich respektiere seine Entscheidung.
Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für ihre Frustration?
Das Unglück in Novi Sad letzten November. (Das Vordach des Hauptbahnhofs stürzte ein, 15 Menschen starben, Anm. d. Red.) Nach so einem Ereignis kommt natürlich Frustration auf. Aber ich habe darauf reagiert: Ein Minister wurde verhaftet, zwei weitere sind zurückgetreten. Mehrere Vorstandsvorsitzende staatlicher Unternehmen befinden sich hinter Gittern. Ich habe viele Angehörige der Opfer persönlich besucht und mein Beileid ausgesprochen.
Die Demonstranten kritisieren vor allem die Korruption.
Sie können keinen anderen Grund nennen, weil die aktuelle wirtschaftliche Situation die beste in der serbischen Geschichte ist. Trotzdem werde ich in den nächsten Tagen eine riesige Antikorruptionskampagne starten.
Das heisst?
Wir werden Untersuchungen einleiten – etwa gegen Bürgermeister, ehemalige und aktuelle Minister.
Haben Sie Angst, aus Ihrem Amt vertrieben zu werden?
Ich habe nur Angst vor Gott. Doch wenn man in der Politik ist, muss man sein Amt aufgeben können. Denn es geht um das, was man hinterlässt. Die Uferpromenade von Belgrad ist die schönste Promenade in ganz Europa. Ich habe das erschaffen. All die Menschen, die jetzt protestieren, protestieren auch dagegen. Und übrigens: Ich habe den Protestierenden ein Referendum gegen mich vorgeschlagen. Sie lehnen das ab. Weil sie genau wissen, dass sie verlieren würden.
In den westeuropäischen Medien werden Sie als Autokrat beschrieben. Ist das richtig?
Sie wollen, dass ich bestätige, was einige westliche Medien sagen? Sagen sie das über jeden, der nicht nur eine Marionette irgendeiner Regierung ist? Das bin ich nämlich nicht – und mir ist egal, was die denken. Ich sitze hier, weil ich zweimal mit überragender Mehrheit gewählt wurde.
Es geht genau um Wahlbetrug, Druck auf Oppositionelle und Einschränkung der Pressefreiheit.
Jeden Tag werde ich in den Medien als Hitler, als Mussolini oder sonst wen dargestellt. In Serbien weiss jeder, dass das Unsinn ist.
Es gibt nur wenige europäische Staats- und Regierungschefs, die so freundschaftlich verbunden sind mit Wladimir Putin wie Sie. Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?
Ich habe ihn seit dem 25. November 2021 nicht mehr gesehen. Und in den letzten drei Jahren habe ich nur einmal mit ihm gesprochen: Da ging es um eine mögliche Gasvereinbarung.
Wie kommt es, dass Sie in letzter Zeit nicht wirklich mit ihm Kontakt hatten?
Wir haben traditionell gute Beziehungen zu Russland, und wir schämen uns nicht, das zu sagen. Doch wir geraten von allen Seiten unter Druck. Obwohl viele andere europäische Staatschefs Moskau seit Beginn der Offensive in der Ukraine besucht und mit Putin gesprochen haben. Ich tat das nicht. Was hat mir das gebracht? Nichts.
Donald Trump hat Anfang Januar sein Amt angetreten. Wie ist Ihre Beziehung?
Sehr gut. Er und seine Leute sind engagiert, und ich glaube an die Veränderungen, für die er kämpft.
Was bedeutet seine Präsidentschaft für Serbien?
Eine echte Veränderung – und dass uns jemand zuhört. Ohne die politischen Lasten der 1990er-Jahre.
Wenn wir in acht Jahren wieder ein Interview führen, was wird sich in Serbien verändert haben?
Unsere Wirtschaft wird noch weiter gewachsen sein. Und Serbien wird Mitglied der Europäischen Union sein.