BLICK trifft die umstrittene Flüchtlings-Helferin Carola Rackete
«Die Schweiz ist noch nicht demokratisch genug»

Als Seenotretterin wurde Carola Rackete weltbekannt. Dabei steuerte sie die Sea-Watch 3 nur, weil niemand anders konnte. Ihre Hauptmission: Das System umkrempeln.
Publiziert: 13.11.2019 um 23:32 Uhr
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Aktualisiert: 14.11.2019 um 14:13 Uhr
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Ist gern am Wasser – bevorzugt, wenn sie kein Rettungsschiff steuern muss: «Sea-Watch»-Kapitänin Carola Rackete.
Foto: Siggi Bucher
Fabienne Kinzelmann

Carola Rackete (31) rebelliert schon vor dem Interview-Termin. «Ich mache keine sinnlose Spazierfahrt auf einem Schiff», schreibt die Kapitänin an BLICK. Das Gespräch hätte auf dem Zürichsee stattfinden sollen, ein kleiner Kahn war bereits organisiert. Doch die Frau, die im Juni im Mittelmeer 53 Flüchtlinge in Seenot rettete und so zur internationalen Berühmtheit wurde, bleibt hart. Das benötigte Benzin sei Ressourcenverschwendung. Das Schiff muss im Hafen bleiben. Man kann das lächerlich finden. Oder radikal. Es ist aber vor allem: konsequent.

Wer als Einzelner dem Klima nicht schaden will, isst kein Fleisch, verzichtet möglichst auf Plastikverpackungen und Flüge – oder eben auf eine unnötige Bootstour, die zwar ein hübsches Foto hergegeben, dafür aber CO2 in die Erdatmosphäre geblasen hätte.

Ein Leben aus dem Rucksack

Also geht es mit BLICK ganz klimaneutral durch Zürich: zu Fuss. Angereist ist Rackete per Zug – 25'000 Kilometer hat sie in diesem Jahr schon auf den Schienen zurückgelegt. Sie lebt aus dem Rucksack und von Ersparnissen, gemeldet ist sie in Deutschland.

Auf dem Weg über den Platzspitz bis zur Langstrasse wird sie neugierig gemustert. Viele erkennen sie, seit sie sich im Sommer mit Italiens damaligem Innenminister Matteo Salvini (46) anlegte – und ohne Erlaubnis mit dem Rettungsschiff Sea-Watch 3 Kurs auf Lampedusa nahm.

Seither muss die Norddeutsche viel Hass ertragen. Bei ihrem Besuch in Genf diese Woche sprayte jemand eine Morddrohung an eine Wand der Universität. «Das hätte ich in der Schweiz nicht erwartet», sagt Rackete, die ihre hüftlangen Filzlocken unter einer von Mama gestrickten Mütze verpackt hat.

Sie wollte eigentlich nicht aufs Schiff

Auf dem Rettungsschiff wollte sie eigentlich gar nicht sein. «Ich war gerade Bäume pflanzen in Schottland, als Sea-Watch anrief.» Der Kapitän war ausgefallen, die Crew stand bereit. Also sprang Rackete als studierte Nautikerin ein. Schon vorher habe sie zwar Rettungsmissionen geleitet, aber: «Ich mache Seenotrettung nur, weil es kein anderer tut.»

Sie versteht sich in erster Linie als Klimaaktivistin. In England hat sie einen Master in Naturschutzmanagement absolviert. Ihr Buch «Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation» dreht sich darum auch um die Gefahren der Erderwärmung und den Zusammenhang zwischen Klimaschutz und Migration.

«Klimaflucht ist bereits eine Realität.» Wenn Menschen sich nicht ernähren könnten, dann sei das auch Vertreibung. Und immer öfter liege der Grund für Hunger und Armut in durch die Erderwärmung verursachten Dürren oder Fluten. «Der Wirtschafts- oder Klimaflüchtling wäre auch lieber zu Hause geblieben.»

Schuld an der Flüchtlingskrise ist für Rackete das Wirtschaftssystem

Seenotrettern wie Rackete wird oft vorgeworfen, dass die Rettungsmissionen die Zahl der Flüchtlinge, welche die Flucht nach Europa wagen, hochtreiben. Wissenschaftlich belegt ist der «Pull-Effekt» aber nicht. Sehr gut belegt ist: Je weniger Rettungsschiffe unterwegs sind, desto mehr Menschen sterben. 2015, zu Hochzeiten der Flüchtlingskrise, starb nur einer von 270 auf dem gefährlichen Weg übers Mittelmeer. Heute wagen deutlich weniger Menschen die Überfahrt, das Risiko zu sterben ist aber fünfmal grösser.

Die Schuld an der ganzen Misere gibt Rackete dem Wirtschaftssystem. Das will sie ändern, dafür engagiert sie sich bei Extinction Rebellion (XR). Den radikalen Umweltschützern werden Sektenähnlichkeit und eine pathetische Weltuntergangsrhetorik vorgeworfen. Durch Blockaden verschaffen sie sich Gehör.

Verbesserungspotenzial bei Schweizer Volksinitiativen

Am Lindenhof über Zürich schaut Rackete auf die Limmat, wo Schweizer XR-Aktivisten im Sommer den Fluss mit Uranin giftgrün färbten. Die Klimarebellin sieht XR als Demokratiebewegung. Rackete mag die zentrale Forderung: Bürgerversammlungen. Auch die Schweiz ist Rackete noch nicht demokratisch genug. «Bei Volksinitiativen etwa gibt es nur Ja/Nein-Optionen.» Idee: Lieber sollen per Los gewählte Bürger über Sachfragen diskutieren und politische Entscheidungen treffen – etwa dann, wenn das Parlament nicht weiterkommt.

In Grossbritannien, wo XR am grössten ist, hat der Druck durch Blockaden bereits gewirkt. Im Juni hat die britische Regierung den Klimanotstand ausgerufen. Und eine Bürgerversammlung soll ein Konzept erarbeiten, wie das Vereinigte Königreich bis 2050 klimaneutral werden kann. Zur «grünen Welle» in ganz Europa haben nicht zuletzt die hartnäckigen Proteste der Klimajugend beigetragen. Nicht genug für die Klimarebellin: «Es muss jetzt der nächste Schritt passieren, da muss jetzt was Grosses kommen.» Also doch eine Revolution? «Fridays for Future könnte zum Beispiel eine Partei gründen und damit zur nächsten Bundestagswahl antreten.» Für eine Rebellin klingt das ziemlich brav.

Deutsche Journalisten waren an Bord der Sea-Watch 3
2:13
Doku zeigt wahres Geschehen:Deutsche Journalisten waren an Bord der Sea-Watch 3
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