Tijuana, Zona Norte, nachmittags: Eine leicht bekleidete Frau steht am Strassenrand, hinter ihr ein Minimarkt, vor ihr ein Mann. Sie wedelt mit ihren Händen durch die Luft. Er zieht an einer Zigarette. Daneben türmen sich Abfallsäcke. Auf der anderen Strassenseite taucht ein «Zonkey» auf, ein als Zebra getarnter Esel – damit Touristen den Besitzer für Erinnerungsfotos bezahlen.
Die Zona Norte ist das grösste Rotlichtviertel Nordamerikas. Inmitten der Bordelle und zwielichtigen Bars liegt die Coahuila, eine der berüchtigtsten Strassen der Stadt. «Prostitution, Drogen, Morde – hier geschieht alles», sagt Gerardo Guillen (25), ein lokaler Unternehmer, der BLICK durch Tijuana führt.
Auf der Fahrt durch Coahuila entdecken zwei Männer das Smartphone des Reporters. Ihr Blick verfinstert sich. «Wir müssen weg», sagt Gerardo und weist dem Fahrer hastig den Weg. Kurze Zeit später erklärt er, dass man die beiden Typen wohl in flagranti bei einem Drogengeschäft erwischt habe. «Der eine Mann hatte Geld in der Hand, der andere zog etwas aus der Tasche. Sie könnten meinen, dass wir von einem gegnerischen Kartell sind.»
Mordrate in zwei Jahren fast verdreifacht
Im letzten Jahrzehnt herrschten hier mächtige Kartelle, die um lukrative Handelsrouten in die USA kämpften. Doch in den vergangenen Jahren hat der lokale Drogenhandel Oberhand gewonnen. Kleine Händler werden immer öfter auf offener Strasse ermordet, weil sie zum falschen Zeitpunkt an der falschen Strassenecke ihre Ware zum Verkauf anbieten. Lokale Behörden schätzen, dass heutzutage bis zu 90 Prozent der Morde auf die lokalen Drogenkartelle zurückgehen.
Mordfälle gehören in Tijuana zum Alltag. Die Tötungsdelikte sind in den vergangenen zwei Jahren explodiert, wie Zahlen der unabhängigen Organisation Bürgerrat für Sicherheit und Strafjustiz zeigen: 2016 wurden knapp 900 Morde aufgezeichnet, 2018 waren es über 2600. Das sind sieben Morde pro Tag. Im internationalen Vergleich macht dies Tijuana mit 1,9 Millionen Einwohnern und 138,2 Tötungsdelikten je 100'000 Einwohner zur gefährlichsten Stadt der Welt!
«Keine Drogen, keine Probleme»
«Ich sehe immer wieder Menschen, die auf der Strasse dealen», sagt Alfredo Arroyo (46). Er wurde vor knapp eineinhalb Jahren aus den USA ausgewiesen, lebt und arbeitet seither in Tijuana. «Viele sind Obdachlose, die ins Drogenmilieu abrutschen.» Alfredo selbst hatte noch nie direkten Kontakt zu einem Kartellmitglied, wie er versichert. «Ich will hier einfach nur arbeiten. Wenn man keine Probleme sucht, dann kriegt man auch keine.»
«Sin drogas, sin problemas» (auf Deutsch: keine Drogen, keine Probleme), beteuern alle. Auch Maria Galetta, die seit über 20 Jahren täglich für verschiedene Hilfsprojekte nach Tijuana pendelt. «Ich fühle mich hier sicher, hatte noch nie Schwierigkeiten.» Die 71-Jährige kümmerte sich jahrelang um Obdachlose, half ihnen, von der Strasse und den Drogen wegzukommen. Es seien mehrheitlich abgeschobene Migranten aus den USA, die ins Drogenmilieu abrutschen. «Sie müssen das Land verlassen, kommen ohne Familie nach Tijuana. Oft stürzen sie in eine Depression, so beginnt ihr Teufelskreis.» Einmal auf der Strasse und drogenabhängig, sind sie wie Freiwild für die hiesigen Kartelle.
Schweiz rät ausdrücklich von Reise nach Tijuana ab
Im Westen der Stadt ist die Drogenmafia am aktivsten. Hier rät Gerardo Guillen ausdrücklich vom Filmen ab, «zu gefährlich». Die Gegend scheint wie verlassen. Aus den Häusern dringt kein Lärm. Nur der Abfall im Strassengraben deutet darauf hin, dass hier Menschen leben.
Auf dem Rückweg in die Stadt deutet Guillen plötzlich auf einen öffentlichen Parkplatz hin. «Hier wurden vor zwei Wochen der Sohn und der Neffe eines Kartellchefs gekidnappt», sagt er und zeigt ein Video der Entführung auf Facebook. Zwölf bewaffnete Männer sind darauf zu sehen, wie sie die Jugendlichen in ein weisses Auto zerren – am helllichten Tag.
Die Entführung machte weltweit Schlagzeilen. Es sind jene Berichte, die Tijuanas unrühmlichen Titel als gefährlichste Stadt der Welt untermauern. Auch die Schweiz ist sich der prekären Sicherheitslage bewusst. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) rät ausdrücklich von «touristischen und anderen nicht dringenden Reisen» nach Tijuana ab.
Doch trotz Gangstervideos und Reisewarnungen: Der Tourismus boomt. Über zwölf Millionen Menschen besuchten 2018 Tijuana – ein neuer Rekord. «Und kaum einer von ihnen ist gestorben, oder?», sagt Guillen herausfordernd. Der 25-Jährige ist stolz auf seine Stadt. Und hält an seinem Credo fest: «Sin drogas, sin problemas.»