Rauchspuren am Himmel, Sirenengeheul am Boden, Explosionen überall: Seit gestern am frühen Morgen feuerten militante Palästinenser aus dem Gazastreifen Tausende Raketen auf Israel ab. Mindestens 300 Israelis kamen nach vorläufigen Zählungen ums Leben, fast 2000 wurden verletzt. Es war ein Angriff, mit dem in dieser Heftigkeit kaum jemand gerechnet hatte. Die Geheimdienste: offenbar komplett überrumpelt.
In den ersten Stunden der Offensive drangen bewaffnete Männer auf Land, See und in der Luft nach Israel vor. Dabei kam es zu Gefechten mit israelischen Soldaten. Im Netz kursierten schreckliche Videos von Gewalttaten, vermutlichen Geiselnahmen und Entführungen. Hamas-Terroristen verschleppten nach Angaben des israelischen Militärs etliche Opfer in den Gazastreifen, darunter auch Soldaten, wie ein Sprecher der Armee bestätigte, ohne Angaben zur Zahl der Entführten zu machen.
«Bürger Israels, wir sind im Krieg», sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer ersten Reaktion.
Die militante Hamas sprach von einer «Militäroperation». Ihr Militärchef Mohammed Deif erklärte, seine Organisation habe beschlossen, «israelischen Verbrechen ein Ende zu setzen». Die radikalislamischen Herrscher über Gaza werden von Israel, der EU und den USA als Terrorgruppe eingestuft.
Eisernes Schwert
Als Reaktion auf den Angriff startete Israel die Operation «Eisernes Schwert». Kampfflugzeuge bombardierten wiederholt Ziele im Gazastreifen. Die Armee teilte mit, 17 Militäranlagen und vier Kommandozentren der Hamas seien getroffen worden. Gemäss des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen kamen dort 250 Menschen ums Leben, mehr als 1600 seien verletzt worden. Israels Verteidigungsminister Joav Galant (64): «Die Hamas hat einen schweren Fehler begangen und einen Krieg gegen den Staat Israel begonnen.» Soldaten des Landes kämpften «an allen Stellen, an denen eingedrungen wurde». Er rief die Bürger dazu auf, Anweisungen Folge zu leisten, und kündigte an: «Israel wird diesen Krieg gewinnen.»
Ein israelischer Offizieller drohte der Hamas, sie habe mit dem Angriff «die Tore zur Hölle» geöffnet. Der Sprecher der israelischen Cogat-Behörde, die für Einreise- und Arbeitsgenehmigungen für palästinensische Arbeiter aus dem Gazastreifen zuständig ist, versicherte, man werde die Organisation zur Rechenschaft ziehen.
Gemäss des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA befinden sich derzeit 28’000 Schweizerinnen und Schweizer in der Gegend. Blick-TV-Reporterin Hanna Dedial, die gerade Israel-Ferien macht, berichtet: «Die Strassen in Tel Aviv sind wie ausgestorben, kaum jemand ist unterwegs.» Ihr Rückflug am Samstagabend sei gestrichen worden, die Nacht konnte sie bei Freunden verbringen, die einen Luftschutzkeller haben.
Internationale Entrüstung
Der Angriff der Hamas löste weltweites Entsetzen aus. Der Weltsicherheitsrat in New York will am Sonntag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.
«Unsere Gedanken sind bei den Opfern und allen Betroffenen», schrieb ein Sprecher der Nato auf X (ehemals Twitter). Terrorismus sei eine grundlegende Bedrohung für freie Gesellschaften. Israel habe das Recht, sich zu verteidigen.
Auch in der Schweiz meldeten sich Politikerinnen und Politiker zu Wort. Bundespräsident Alain Berset (51) schrieb auf X: «Die Schweiz verurteilt den Raketenbeschuss und die Angriffe aus Gaza auf Israel. Wir fordern ein sofortiges Ende der Gewalt und die Einhaltung des Schutzes der Zivilbevölkerung.» Der SP-Magistrat sprach den Familien und Angehörigen der Opfer sein tiefstes Mitgefühl aus.
«Aus Schweizer Sicht muss man Terrorismus verurteilen», sagte Mitte-Ständerat Pirmin Bischof (64) im SRF. Die Eskalation zeige, wie instabil die Lage weltweit sei, das beunruhige ihn sehr, sagte der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats.
Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz (65) verurteilte die Angriffe aufs Schärfste, ebenso die Regierungen Italiens, Spaniens, Frankreichs und Grossbritanniens sowie die Europäische Union. Die USA stellten sich klar auf die Seite Israels. Präsident Joe Biden (80) sicherte die Unterstützung der Vereinigten Staaten zu. «Israel hat ein Recht darauf, sich selbst und sein Volk zu verteidigen», teilte er gestern in Washington mit.
Kriegerische Töne aus dem Iran
Das Aussenministerium in Kairo teilte mit, Ägypten bemühe sich intensiv um eine Beruhigung der Lage. In der Vergangenheit hatte das Land immer wieder zwischen Israel und militanten Palästinenserfraktionen im Gazastreifen vermittelt und wiederholt Waffenruhen bewirkt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (69) rief alle Seiten zur Zurückhaltung auf.
Irans Aussenamtssprecher hingegen gratulierte der islamistischen Hamas nach ihrem Grossangriff auf Israel. «Die heutige Operation der Widerstandsbewegung in Palästina ist ein Wendepunkt in der Fortsetzung des bewaffneten Widerstands des palästinensischen Volkes gegen die Zionisten», sagte Nasser Kanaani der iranischen Nachrichtenagentur ISNA. Seit der Islamischen Revolution von 1979 gilt Israel für den Iran als Erzfeind.
Nach Uno-Angaben leben im Gazastreifen heute mehr als zwei Millionen Menschen unter extrem schwierigen Bedingungen. 2007 hatte die Hamas dort gewaltsam die Macht an sich gerissen. Israel verschärfte daraufhin eine Blockade des Küstengebiets.