Zu dieser Geschichte gibt es keine Bilder, nur ein paar Erzählungen. Die Europäische Union steckt im Dezember 2005 in der Sackgasse. Der Verfassungsvertrag ist gescheitert, die Mitgliedsländer streiten um ein neues Budget. Es geht um Geld, Einfluss, Subventionen für die Landwirtschaft – und die Zukunft einer handlungsfähigen EU mit 25 Mitgliedern. Der amtierende Ratspräsident Tony Blair zieht sich am Abend frustriert zurück. Die anderen Regierungschefs finden sich damit ab, dass dieser Gipfel wohl scheitern wird. Nur eine Politikerin aus Deutschland wuselt noch herum. Sie redet mal hier und mal da, stellt sich dem einen vor, grüsst den Nächsten und landet schliesslich in einem langen Zwiegespräch mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac. Es ist die Neue auf dem internationalen Parkett. Es ist Angela Merkel.
Am nächsten Morgen ist der Ausweg gefunden, und Merkel hat ihre Rolle für die kommenden 16 Jahre entdeckt. Deutschland wird zur neuen Mittelmacht Europas: kompromissorientiert, ausgleichend und (natürlich) auch am eigenen Fortkommen interessiert. «Die Welt trat in das Zeitalter Merkels ein», schrieb der britische Politikwissenschaftler und Journalist Matthew Quortrup später.
Eine Frau ohne Eigenschaften ringt den Polit-Machos Kompromisse ab
Das konnte im Dezember 2005 noch niemand wissen. Der Unbekannten aus Berlin ist es nur gelungen, ein höheres EU-Budget zu verhandeln, den Briten ein kleines bisschen von ihrem Beitragsrabatt abzuluchsen und den Franzosen das Gefühl zu geben, bei der Frage der Agrarmilliarden an ihrer Seite zu stehen. Den grössten Teil der Rechnung würde Deutschland übernehmen. «Deutschland war auf einmal konstruktiv», erzählen Teilnehmer dem Merkel-Biografen Quortrup. Oder andersherum: Das Auftauchen einer Frau ohne Eigenschaften in der selbstbewussten Welt der Politik-Popstars Tony Blair, Jacques Chirac, George Bush oder Wladimir Putin macht Kompromisse möglich, wo es bisher bei verbaler Kraftmeierei geblieben war.
So soll es in der Kanzlerinnenschaft bleiben. Die Methode Merkel kommt ohne die Symbolik der Macht aus, ohne politische Visionen, ohne Pläne, die man dem Wähler zur Abstimmung vorlegen müsste. Als «Ästhetik der Armut» kennzeichnet der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte diesen Stil. Nach aussen funktioniert das gut, innenpolitisch jedoch bleibt – von einer Renten- und Sozialreform bis zu einem vernünftigen Klimaschutzgesetz – zu viel liegen.
Die konservative Kanzlerin erkennt an, dass die wachsende wirtschaftliche Stärke ihres Landes weniger auf dem Fleiss, der Reformbereitschaft und der Erfindungskunst der Deutschen beruht, als auf den Problemen der anderen. Die Schwäche der europäischen Gemeinschaftswährung nutzt der exportorientierten deutschen Industrie. Die laxe Geldpolitik der Notenbank kreiert ein Zinsniveau, das nahezu über die gesamte Amtszeit der Kanzlerin unterhalb des für Deutschland angemessenen Levels liegt. Die Folge: In einer Zeit, in der Griechenland und Zypern am Rand des Staatsbankrotts manövrieren, Italiens Wirtschaft nicht vom Fleck kommt und Grossbritannien schliesslich in den Brexit schleudert, wächst die deutsche Wirtschaft beständig, die Arbeitslosigkeit nimmt ab, das Staatsdefizit schrumpft, die Ausfuhren erreichen spektakuläre Massstäbe.
Nie zuvor war Deutschland ein so guter Nachbar und Partner
Anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder ist Angela Merkel bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Und anders als Vorbild Helmut Kohl kann sie die deutsche Rolle auch unabhängig von der deutsch-französischen Achse denken, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Motor für den europäischen Einigungsprozess geworden war. Der Traum von einem neuen Deutschland, das erfolgreich und freundlich ist und rücksichtsvoll mit seinen Partnern umgeht, nimmt Gestalt an. Die Fussball-Weltmeisterschaft des Jahres 2006 wird zum deutschen «Sommermärchen». Deutschland präsentiert sich gastfreundlich, begeisterungsfähig und heiter, am Ende sogar als fairer Verlierer. So wünscht sich die neue Kanzlerin ihr Land und so will sie es im Jahr 2015 wieder erleben, als Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland kommen. Diesmal scheitert sie. Deutschland ist doch nicht ganz so, wie die Kanzlerin ihr Land gerne hätte.
Doch so wenig, wie Angela Merkel triumphiert, wenn sie eine Einigung zustande bringt, so wenig nimmt sie ihre Niederlagen persönlich. Die promovierte Physikerin ist seit jeher der Auffassung, dass das Leben im Grossen und Ganzen dem Energieerhaltungssatz folgt: Es geht nichts verloren, am Ende gleicht sich alles aus, Lob und Kritik, Siege und Niederlagen inklusive.
Nach dem Überraschungserfolg von 2005 wird in der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 der Vertrag von Lissabon verhandelt. Der ist zwar kaum mehr als ein Verfahrensdokument – die europäische Nationalhymne wird gestrichen, die gemeinsame Flagge oder der Titel des europäischen Aussenministers –, doch er sorgt dafür, dass die Europäische Union mit nun 27 Mitgliedern arbeitsfähig bleibt. Das ist doch auch ein schöner Erfolg, findet die Kanzlerin. Elegant sind die merkelschen Lösungen selten, dafür aber haltbar. «Noch nie war Deutschland uns so ein guter Nachbar», seufzt der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zum Abschied von der ewigen Kanzlerin.
Warten, zögern, springen
Eine der von ihr mit Bedacht erzählten Geschichten aus ihrer Kindheit geht so: Als Schülerin steht sie auf dem Dreimeterbrett. Und springt erst, als die Schulglocke den Sportunterricht schon beendet. Keine Sekunde zu früh, aber eben gerade noch so, dass die Leistung zählt. Sie erzählt das nicht ohne Hintersinn. Es ist die Selbstdeutung ihres ureigensten Regierungsprinzips: das des Zögerns. Und es ist das Herausstellen einer vermeintlichen Schwäche, die sie selbst als Stärke empfindet. Sie sieht es als Wartenkönnen: «Wenn ich mir etwas Zeit nehme, um zu meiner Meinung zu kommen, muss ich hinterher nicht damit hadern.» Sie wartet in der Finanzkrise mit dem Konjunkturpaket, in der Eurokrise mit der Griechenlandrettung, in der Migrationskrise mit den Verhandlungen mit der Türkei.
Aber am Ende ist sie es, die springt, wenn die Glocke läutet. Das ist der merkelsche Mythos.
* Ursula Weidenfeld (59) ist deutsche Wirtschaftsjournalistin und schrieb die Merkel-Biografie «Die Kanzlerin», die im Sommer publiziert wurde. Für ihre Kolumnen im deutschen «Handelsblatt» wurde sie mit dem Ludwig-Erhard-Preis ausgezeichnet.