In Deutschland beginnt eine neue Ära. Zweieinhalb Monate nach der Bundestagswahl haben SPD, Grüne und FDP am Dienstag den Koalitionsvertrag der ersten Ampel-Regierung auf Bundesebene unterschrieben. Am Mittwoch werden der Sozialdemokrat Olaf Scholz (63) und seine neue Regierung vereidigt. Scholz ist seit Jahrzehnten eine prägende Figur in der SPD, pendelte zwischen Landes- und Bundespolitik hin und her. Im Blick-Interview analysiert der Scholz-Kenner Lars Haider, Chefredakteur des «Hamburger Abendblatts», den SPD-Spitzenpolitiker.
Nach 16 Jahren löst Olaf Scholz die Bundeskanzlerin ab. Wie viel Merkel steckt in ihm?
Lars Haider: Ganz schön viel. Sie sind beide Analytiker. Scholz ist zwar kein Physiker, sondern Jurist, er geht aber immer sehr analytisch an Themen ran, arbeitet sich extrem stark ein – wahrscheinlich noch stärker als Merkel – und hat eigentlich alle politischen Grundsatzfragen mindestens einmal durchdrungen. Wie Merkel ist er ein Aussenseiter in seiner Partei. Er nimmt das Leben und die Politik sehr ernst, ist extrem belastbar und wie Merkel ein ganz, ganz, ganz ruhiger Mensch, was schnell spröde und etwas langweilig wirken kann.
Ist das Scholz' Erfolgsgeheimnis?
Es gibt dazu eine Geschichte: 2018 ging er mit dem Plan nach Berlin, Bundesfinanzminister und Vizekanzler zu werden und dann 2021 anzutreten. Viele haben ihm gesagt, er werde nie SPD-Kanzlerkandidat. Seine Idee war, dass die Leute kurz vor der Wahl merken, dass es mit Merkel eigentlich ganz schön war und es am besten wäre, mit jemandem weiterzumachen, der so ist wie Merkel. Scholz hat damals gesagt: Ich bin ja praktisch die männliche Merkel.
Er ist mit 63 Jahren sogar fast genauso alt.
Wenn es eine Lehre zum Bundeskanzler gäbe, hat Scholz sie praktisch durchlaufen: Er war Bundestagsabgeordneter, dann Generalsekretär der SPD. Damals sagte schon Gerhard Schröder: Aus dem wird mal was. Dann war er Bundesarbeitsminister während der Finanzkrise, Bürgermeister von Hamburg, dann Finanzminister und Vizekanzler. Jetzt Kanzler. Das hat natürlich gedauert, aber wegen all dieser Stationen ist er jetzt auch deutlich erfahrener als alle anderen in der Regierung. Christian Lindner profiliert sich zwar wie ein erfahrener Politiker, hatte aber genau wie Annalena Baerbock noch nie ein öffentliches Amt. Das macht den Charme, aber auch ein bisschen das Risiko dieser Regierung aus.
Und die soll ausgerechnet der «Scholzomat» führen?
Der Spitzname «Scholzomat» stammt aus seiner Zeit als SPD-Generalsekretär. Da war es seine Aufgabe, so zu antworten, dass ihn niemand festnageln kann. Er ist sicher rhetorisch nicht besonders brillant, hat sich aber für seine Verhältnisse schon sehr verbessert. Und man muss wissen, dass er wirklich sehr schüchtern ist. Aber es geht ja auch nicht darum, eine Rampensau zum Bundeskanzler zu haben.
Sind Sie vom neuen Kanzler wirklich so begeistert?
Ich habe Olaf Scholz über die Jahre als jemanden erlebt, der das, was er macht, wirklich kann, und der macht, was er sagt. Und das mit einer hohen Kompetenz und Kenntnis der Sache. Was die Kompetenz angeht, gibt es ausser Angela Merkel und Wolfang Schäuble wenige vergleichbare Politiker in Deutschland.
Es gab aber auch Skandale. Bilder von brennenden Strassen beim G20-Gipfel in Hamburg oder seine Rolle in der Cum-Ex-Affäre und der Wirecard-Insolvenz.
Bei den Finanzsachen ist bis heute keine Schuld nachgewiesen. Es gibt meiner Ansicht nach nur einen richtigen Skandal, und das war G20. Da hat er wirklich versagt. Wenn ich Armin Laschet gewesen wäre, wäre ich im Wahlkampf voll darauf eingegangen und hätte gesagt: Wie soll denn einer Bundeskanzler werden, der ein zweitägiges Treffen mit ein paar Staatschefs organisiert und dabei die ganze Stadt in Schutt und Asche legt? Da hätte Olaf Scholz gar nichts gegen sagen können.
Was erwarten Sie vom Kanzler Scholz?
Scholz hat bei allem, was er macht, immer einen Plan. Beim Koalitionsvertrag kann man davon ausgehen, dass er ihn umsetzen wird und dass dahinter eine Idee steht, die Deutschland umwandelt in ein Land, das gerechter ist. Ich glaube, er wird Krisen wie die Pandemie in einer Art und Weise abarbeiten, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.
Was treibt ihn an?
Eine Idee von einer Gesellschaft, in der auf niemanden herabgesehen wird. In der jeder sein Glück finden kann und in der es nicht darum geht, wer studiert hat und wer nicht. Daran will er arbeiten, weil er glaubt, dass er derjenige ist, der das am besten kann. Was seine Fähigkeiten angeht, ist er sehr selbstbewusst.
Gibt es eine biografische Erklärung für dieses Verantwortungsbewusstsein?
Nicht dass ich wüsste. Er war der Erste in seiner Familie, der Abitur gemacht hat. Die Eltern haben in der Textilwirtschaft gearbeitet. Der Vater war am Ende angestellter Chef einer Firma. Scholz hatte schon immer ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Für welches Thema brennt er besonders?
Für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Er dachte schon als Juso, dass sich das in zehn, zwanzig Jahren erledigt haben müsste. Es hat ihn belastet, dass seine Frau, die Bildungspolitikerin Britta Ernst, ein hohes Amt in Hamburg nicht bekam, weil er Bürgermeister der Stadt war. Es ärgert ihn, wenn er gefragt wird, ob seine Frau weiterarbeitet, wenn er Kanzler wird. Er regt sich darüber auf, dass in den Vorständen der Dax-Unternehmen noch immer kaum Frauen sind. Und er hat ja auch extra mit der Nominierung seiner Ministerinnen und Minister gewartet, bis seine Koalitionspartner ihre Leute aufgestellt haben, damit er sein Kabinett paritätisch besetzen kann.
Apropos Britta Ernst: Sie widmen dem Thema «Olaf Scholz und die Liebe» ein ganzes Kapitel.
Seine Ehe mit Britta Ernst, die jetzt schon im zweiten Bundesland Bildungsministerin ist, ist wirklich eine besondere. Das sieht man auch daran, wie er über sie spricht. Er sagt dann nicht «meine Frau», sondern: Britta Ernst. Er will nicht, dass seine Frau als «die Frau von» wahrgenommen wird. Die beiden sind ausserdem ganz lieb und rührend miteinander. Das ist wirklich eine grosse Liebe.
Seine Frau brachte ihn auch zum Sport, schreiben Sie.
Ja, mit Mitte 40 sagte sie zu ihm: Olaf, du musst was tun. Und dann ist er halt in den Park nebenan gegangen. Nach 200, 300 Metern konnte er nicht mehr. Da hat er gemerkt, dass da etwas nicht stimmt, und angefangen zu rudern und zu joggen. Seine Sicherheitskräfte haben ihn in Hamburg morgens um sechs oder sieben Uhr abgeholt und sind mit ihm die Elbe entlanggelaufen. Im Wahljahr hat er bis zu dreimal in der Woche Sport gemacht und seit März keinen Alkohol mehr getrunken. Er wusste, dass er fit sein muss, wenn er Kanzler werden will.
49 Jusos sind in den Bundestag gezogen, sie haben die Sperrminorität und kritisieren schon jetzt den Koalitionsvertrag. Muss Scholz Angst haben, dass sie ihn blockieren?
Die Jusos müssen sozusagen immer erst mal gegen die Parteioberen sein, sonst wären sie keine Jusos. Olaf Scholz war zu seiner Juso-Zeit nicht anders. Er hat auch damals schon versucht, den Leuten die Welt zu erklären. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der SPD Scholz aktuell gefährlich werden kann. Wir werden ihn in diesen vier Jahren auch anders kennenlernen als jetzt. Er wird nicht plötzlich Charisma entwickeln, aber im besten Fall glänzt er mit seiner Politik. So war es in Hamburg. Er wird nicht Kanzler der Herzen, aber die Leute werden ihn wertschätzen.
Und wenn er mal nicht weiterweiss, klingelt er dann bei seiner Vorgängerin durch?
Auf keinen Fall. In der Vorstellung von Scholz gibt es die Situation nicht, dass er nicht weiterweiss.
Tritt Scholz in vier Jahren noch mal an?
Mit 60 hat er mal gesagt, er habe noch zehn gute Jahre in der Politik vor sich. Nun hat er gesagt: Wenn man ein bisschen Sport macht und sich geistig beschäftigt, kann man auch bis 80 noch arbeiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass er eine Wiederwahl sogar mit einem besseren Ergebnis gewinnt, sich nach weiteren vier Jahren aber aus der Politik verabschiedet. Und es vielleicht sogar noch auf den Weg bringt, dass die Amtszeit für einen Bundeskanzler auf acht Jahre begrenzt wird.
Als Lars Haider (52) 2011 Chefredakteur des «Hamburger Abendblatts» wurde, traf er Olaf Scholz – damals Bürgermeister der Hansestadt – zum ersten Mal. Seither ist er ihm Hunderte Male begegnet: für Interviews und Hintergrundgespräche, bei Auftritten und Anlässen. «Der Schlüssel zum Verständnis des Politikers und Menschen Olaf Scholz ist, dass man sich länger mit ihm beschäftigt», schreibt Haider in seinem Buch über den neuen Kanzler: «Olaf Scholz – Der Weg zur Macht» (VÖ: 6. Dezember 2021).
Als Lars Haider (52) 2011 Chefredakteur des «Hamburger Abendblatts» wurde, traf er Olaf Scholz – damals Bürgermeister der Hansestadt – zum ersten Mal. Seither ist er ihm Hunderte Male begegnet: für Interviews und Hintergrundgespräche, bei Auftritten und Anlässen. «Der Schlüssel zum Verständnis des Politikers und Menschen Olaf Scholz ist, dass man sich länger mit ihm beschäftigt», schreibt Haider in seinem Buch über den neuen Kanzler: «Olaf Scholz – Der Weg zur Macht» (VÖ: 6. Dezember 2021).