Er war einer der Jungstars beim deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel»: Claas Relotius (33), ausgezeichnet mit mehreren Journalistenpreisen. Seine Reportagen aus den verschiedensten Winkeln der Welt waren wunderschön geschrieben, oft lebten sie von verblüffenden Details. Relotius malte mit seinen Berichten Bilder von entfernten Welten und Menschen, die Millionen von Lesern berührten und erschütterten.
Jetzt gab Relotius zu: Vieles davon ist frei erfunden! Das Magazin versucht nun mit einer Untersuchungskommission nachzuvollziehen, wie Relotius in seinen Texten schwindeln konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Die Bombe liess «Der Spiegel» am Mittwoch platzen. Dabei gab es sehr wohl Menschen, die schon früher stutzig wurden über die Lügen, die der Reporter in seinen Reportagen unterbrachte.
Relotius beschrieb das zurückgebliebene Amerika
Zum Beispiel die Einwohner der Provinzstadt Fergus Falls, Minnesota. Relotius war dorthin gereist, um nachzuvollziehen, warum Menschen Trump wählten. Die Reportage erschien am 25. März 2017 im Magazin. Er beschrieb darin Rednecks, Hinterwäldler, weisse US-Amerikaner, die mit ihren Knarren am liebsten auf alles schiessen würden, was sich bewegt.
Michele Anderson lebt in Fergus Falls. Sie ist Relotius bei dessen Recherche begegnet. Und beschreibt nun in einem langen Eintrag auf dem Blog-Netzwerk «Medium.com», wie wütend sie über das Ergebnis ist. Unter dem Titel «Der Spiegel-Journalist hat sich mit der falschen Kleinstadt angelegt», schreibt Anderson: «Vor allem der ganz grundlegende Mangel an Wahrheit und seine bizarr trostlose Darstellung des Ortes, den ich liebe, hinterliessen ein sehr ungesundes, unruhiges Gefühl in der Magengrube.»
Frei erfundene Passagen
Einen Monat will Relotius in Fergus Falls verbracht haben. Anderson nimmt seinen Text auseinander und zeigt auf, wo der Reporter die Wirklichkeit zurechtgebogen hat. Es beginnt schon im ersten Absatz. Relotius schreibt: «Am Ortseingang, kurz vor dem Bahnhof, steht ein Schild mit dem amerikanischen Sternenbanner, darauf steht: «Welcome to Fergus Falls – Home of damn good folks», Heimat verdammt guter Leute.
Nur: Der zweite Satz, der steht so nicht auf dem Schild. Anderson postet zum Beweis ein Bild. Es ist ein Beispiel von vielen. Anderson schreibt, es habe so viele Lügen im Artikel gehabt, dass sie mit ihrem Freund Jake die elf absurdesten daraus zusammengetragen habe.
Angeblicher Beretta-Besitzer besass nie eine Beretta
So schreibt Relotius zum Beispiel über den Bürgermeister. «Andrew Bremseth, (...) trägt ein graues Kurzarmhemd, an seinem Gürtel klemmt ein Holster. Seine Pistole Beretta, Kaliber 9 Millimeter, habe ihm sein Vater zu Weihnachten geschenkt, sagt er.» Weiter unten heisst es: «Er war noch nie mit einer Frau zusammen. Er war auch noch nie am Meer.»
Auch diese Unwahrheit deckt Anderson auf. Sie sprach mit Bremseth und postet danach ein Bild von ihm, das ihn mit seiner langjährigen Freundin am Meer zeigt. Eine Beretta besitzt er ebenfalls nicht und schwört, dass er nie eine Waffe mit ins Büro mitnehmen würde.
«American Sniper» soll zwei Jahre lang gezeigt worden sein
Wie sehr Relotius das Bild des schiesswütigen Amis zeichnen wollte, zeigt auch die Passage über das Kinoprogramm. Der Reporter schrieb: «Am Stadtrand, dort wo Fast-Food-Filialen leuchten, gibt es auch ein Kino. In diesem Kino, einem flachen, rechteckigen Bau, laufen zwei Filme an einem Freitagabend. Der eine, «La La Land», vor leeren Reihen laufend, ist ein Musical, eine Romanze über Künstler in Los Angeles. Der andere, «American Sniper», ein Kriegsfilm von Clint Eastwood, ist ausverkauft. Der Film ist eigentlich schon zwei Jahre alt, fast 40 Millionen Amerikaner haben ihn gesehen, aber in Fergus Falls läuft er noch immer.
Michele Anderson fragte den Kinobetreiber, wann und wie oft «American Sniper» gezeigt wurde und postet den Screenshot der Antwort: «Der Film lief vom 16. Januar 2015 bis 19. Februar 2015. Danach wurde er nicht mehr gezeigt.» Die Liste geht weiter und weiter. Beispiel reiht sich an Beispiel.
Der «Spiegel» nimmt derzeit alle Texte unter die Lupe. Die Chefredaktion schreibt: «Wir werden den Fall Relotius in aller Demut aufarbeiten.» Was offenbar fleissig geschieht: Am Donnerstagnachmittag veröffentlichte der «Spiegel», dass auch ein viel beachtetes Interview mit Traute Lafrenz, dem letzten lebenden Mitglied der «Weissen Rose», einige gefälschte Passagen enthält.
Sogar «NZZ Folio» ging über die Bücher – und wurde fündig.
Claas Relotius selbst ist seither untergetaucht. Das «Reporter-Forum» schreibt heute auf seiner Homepage: «Claas Relotius hat sich per SMS gemeldet, sich entschuldigt und seine vier Reporterpreise von sich aus zurückgegeben.»