Belarussischer Regime-Kritiker Sasha Filipenko (36) über den langen Arm Lukaschenkos
«Die Schweiz unterstützt einen wahnsinnigen Terroristen!»

Auch die Schweiz muss ihren Kurs gegenüber Lukaschenko ändern, sagt Schriftsteller Sasha Filipenko. Der Belarusse weiss auch, wie.
Publiziert: 26.05.2021 um 07:03 Uhr
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Aktualisiert: 26.05.2021 um 12:03 Uhr
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Der belarussische Autor Sasha Filipenko hofft auf Konsequenzen für Lukaschenko.
Foto: Keystone
Interview: Fabienne Kinzelmann

Als Roman Protasewitsch mit einem Kampfjet vom Himmel geholt wird, sitzt Sasha Filipenko (36) in der Schweiz. Der bekannte Schriftsteller ist entsetzt, obwohl er den Aktivisten und Journalisten nicht persönlich kennt: Beide sind Belarussen, kämpfen für die Demokratie – und leben im Exil. Filipenko aktuell in der Nähe von Genf. In Sicherheit. Während Protasewitsch 15 Jahre Haft drohen. Filipenko ist klar, was das bedeutet: «Bestien und Sadisten werden ihn quälen.»

Wie wichtig ist Protasewitsch für die Opposition in Belarus?
Sasha Filipenko: Wir sind nicht «die Oppositon». 97 Prozent der Belarussen sind gegen die Terrorgruppe, die die Macht ergriffen hat. Stellen Sie sich einfach vor, Genf wurde von Terroristen eingenommen, die Armee und Polizei kontrollieren. Protasewitsch ist genauso wichtig wie jeder andere Belarusse und jede Belarussin.

Aber er war Mitgründer und Chefredaktor von Nexta, das bei den Massenprotesten nach der manipulierten Wahl im vergangenen August eine wichtige Rolle gespielt hat.
Ja, das ist der beliebteste Telegram-Kanal im postsowjetischen Raum. Aber ich zum Beispiel habe ihn nicht gelesen.

Was bedeutet Protasewitschs Verhaftung für Sie und Ihre Mitstreiter?
Die Frage ist, welche Konsequenzen das für Lukaschenko haben wird. Das ist was für den Gerichtshof in Den Haag, wo er sicher eines Tages landen wird.

Glauben Sie, dass Moskau Lukaschenko bei der Flugzeugentführung unterstützt hat?
Sechs Passagiere sind in Minsk geblieben und flogen nicht nach Vilnius – vier von ihnen sind Russen. Wir haben gute Gründe, zu glauben, dass der belarussische Geheimdienst von seinen russischen Kollegen vom KGB unterstützt wird, die Menschen auf der ganzen Welt entführen und vergiften.

Wie sollte die EU auf den Vorfall reagieren?
Zuallererst sollte sie damit anfangen, zu handeln, statt nur «Besorgnis zu zeigen». Die EU muss Putin klarmachen, dass Belarus kein Teil Russlands ist, kein Teil der russischen Interessensphäre. Aber die EU hat Angst vor Putin. Jedes Mal, wenn sie zwischen der Demokratie im Osten und ihren eigenen finanziellen Interessen wählen muss, entscheidet sie sich für Letzteres. Ebenso macht es die Schweiz.

Sie haben in offenen Briefen den Welt-Eishockeychef René Fasel für sein langes Festhalten an der Eishockey-WM in Belarus und den IKRK-Präsidenten Peter Maurer für angebliche Kooperation mit Lukaschenko heftig angegriffen.
Genau das meine ich. Das belarussische Rote Kreuz war in die manipulierten Wahlen in Belarus involviert und zählte die Stimmen. Aber Maurer, der sich ständig mit Lukaschenkos Aussenminister Makej trifft und mit ihm befreundet ist, lächelt nur und sagt, er könne nichts tun. 12,6 Prozent der Belarussen geben zwangsweise Beiträge an das Rote Kreuz ab. Das Rote Kreuz fälscht in Belarus Wahlen und zwingt die Menschen, dafür Beiträge zu zahlen.

Was erwarten Sie von der Schweiz?
Nichts. Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das Swetlana Tichanowskaja nicht als Wahlsiegerin anerkannt hat. Bei ihrem Besuch in der Schweiz Anfang März wurde sie weder vom Aussenminister noch vom Bundespräsidenten empfangen. Stattdessen hält sie Lukaschenko weiterhin für den legitimen Präsidenten, das heisst sie unterstützt indirekt einen wahnsinnigen Terroristen. Und deshalb finde ich es so schwer, etwas von der Schweiz zu erwarten. Die Schweiz hat ja nicht mal Eile, eigene Staatsbürgerinnen (die Doppelbürgerin Natallia Hersche ist seit September 2020 inhaftiert, Anm. d. Red.) zu retten. Sie macht sich mehr Sorgen um die Züge, die sie nach Belarus verkauft, als darum, dass die eigenen Bürger von einem Diktator als Geisel gehalten werden.

Also keine Erwartungen?
Doch, klar: Wenn die Schweiz handeln würde, könnte sie viel tun.

Die Schweiz hat bereits Sanktionen gegen Lukaschenko und 58 weitere Personen aus seinem Umfeld verhängt. Woran denken Sie konkret?
Sie muss alle EU- und US-Sanktionen unterstützen – weitere Namen müssen auf die Sanktionsliste. Die Schweiz hat sich ausserdem verpflichtet, die Vermögenswerte von Lukaschenko einzufrieren und dem Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zu melden. Das muss sie sicherstellen und transparent machen. Belarussischen Dienstleistern – vor allem im Bereich IT und Transport – könnte man besseren Zugang zum Schweizer Markt geben, die stammen grösstenteils aus dem Privatsektor. Aber: Untersucht die Art der belarussischen Investitionen in der Schweiz! Ein Teil davon stammt von der «Familie» und engen «Freunden» von Lukaschenko und aus der Schattenwirtschaft. 2020 betrugen die belarussischen Investitionen in die Schweiz 22,9 Millionen Dollar.

Sehr viel für belarussische Verhältnisse. Ihre Liste von Ideen ist noch länger?
Die Schweiz sollte neue Wahlen vorschlagen, die von der OSZE beobachtet werden. Ausserdem muss Druck auf den Eishockey-Weltverband (IIHF) ausgeübt werden, um Dzmitry Baskaus (Lukaschenkos Vertrauter und Eishockey-Cheftrainer, Anm. d. Red) Rolle beim Tod von Raman Bandarenka (getöteter Regimegegner, Anm. d. Red) zu untersuchen – die IIHF tut alles, um die Untersuchung zu verschleppen. Und es fehlen Sanktionen gegen das Nationale Olympische Komitee von Belarus, die rot-grüne Flagge bei den Olympischen Spielen sollte ihnen entzogen werden.

Sie und Ihre Mitstreiter haben ausserdem die Schweizer Banken im Blick.
Schweizer Banken müssen die direkte Finanzierung und Kreditvergabe an staatliche Agenturen, staatliche Banken und staatliche Unternehmen aus Belarus ablehnen. Es ist entscheidend, jede Art von Kapitalunterstützung für die drei staatlichen Banken auszusetzen: Belarusbank, Belagroprombank und die Belarussische Entwicklungsbank. Sie kontrollieren zusammen über 60 Prozent des Vermögens im Land und die in Fremdwährung nominierten Geldflüsse unterstützen das belarussische Regime. Schweizer UBS- und Credit-Suisse-Kunden sollten keine von der belarussischen Regierung ausgegebenen Anleihen kaufen. Erstens ist die aktuelle politische Situation in Belarus instabil, daher kann es zu plötzlichen und unvorhersehbaren Wertverlusten von Anleihen kommen. Zweitens werden mit dem Geld aus Anleihen Repressionen finanziert.

EU-Chefin Ursula von der Leyen hat Belarus drei Milliarden Euro versprochen, wenn es demokratisch wird. Ist das ein gutes Angebot?
Das ist wie das Versprechen auf Geld für das Leben nach dem Tod. 40'000 Belarussen waren im Gefängnis. In diesem Moment werden Menschen entführt, gefoltert und getötet. Mir ist nicht klar, wer von dem Angebot profitieren soll.

Wahlheimat Waadt

Sasha Filipenko (36) lebt noch bis Juli mit seiner Familie in einer Schriftsteller-Residenz der Fondation Jan Michalski in Montricher VD. Von dort schreibt der leidenschaftliche Fussballfan auch wütende Briefe an europäische Funktionäre. Ende März erschien sein zweiter Roman «Der ehemalige Sohn» über das Leben unter dem Lukaschenko-Regime auf Deutsch. Zuvor studierte er Literatur in St. Petersburg (Russland) und arbeitete unter anderem als Journalist, Drehbuchautor und Gag-Schreiber.

Keystone

Sasha Filipenko (36) lebt noch bis Juli mit seiner Familie in einer Schriftsteller-Residenz der Fondation Jan Michalski in Montricher VD. Von dort schreibt der leidenschaftliche Fussballfan auch wütende Briefe an europäische Funktionäre. Ende März erschien sein zweiter Roman «Der ehemalige Sohn» über das Leben unter dem Lukaschenko-Regime auf Deutsch. Zuvor studierte er Literatur in St. Petersburg (Russland) und arbeitete unter anderem als Journalist, Drehbuchautor und Gag-Schreiber.

Die Skandal-Akte Belarus

Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 ist Belarus unter Diktator Alexander Lukaschenko (66) international immer stärker isoliert. Dies, nachdem der Machthaber mit Misshandlungen und willkürlichen Verhaftungen gegen Demonstranten vorgegangen ist. Die Opposition in Belarus bezeichnet die Wahl, bei der Lukaschenko 80 Prozent der Stimmen geholt haben soll, als Scheinwahl.

Auch Journalisten wurden Opfer von Lukaschenkos Gewaltregime. Etwa SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky (31), die am 31. Januar vor einer Grossdemonstration gegen das Wahlergebnis in Minsk in ein Gefängnis gesteckt wurde. Erst nach der Intervention des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wurde sie wieder freigelassen.

Bitter für Hockey-Fan Lukaschenko: Am 18. Januar entzog man dem Land auch noch die Eishockey-WM, die vom 21. Mai bis 6. Juni ausgetragen wird. Belarus war zusammen mit Lettland Veranstalter. Doch Sponsoren drohten wegen der Menschenrechtsverletzungen mit dem Rückzug. Nun wird die WM nur in Lettland ausgetragen.

Im März 2021 folgte schliesslich der Absturz beim Eurovision Song Contest ESC. Die Band Galasy ZMesta wollte mit einem Song antreten, der indirekt Propaganda für das Lukaschenko-Regime beinhaltete. Die Jury schloss das Land vom Wettbewerb aus. Flavio Razzino

Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 ist Belarus unter Diktator Alexander Lukaschenko (66) international immer stärker isoliert. Dies, nachdem der Machthaber mit Misshandlungen und willkürlichen Verhaftungen gegen Demonstranten vorgegangen ist. Die Opposition in Belarus bezeichnet die Wahl, bei der Lukaschenko 80 Prozent der Stimmen geholt haben soll, als Scheinwahl.

Auch Journalisten wurden Opfer von Lukaschenkos Gewaltregime. Etwa SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky (31), die am 31. Januar vor einer Grossdemonstration gegen das Wahlergebnis in Minsk in ein Gefängnis gesteckt wurde. Erst nach der Intervention des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wurde sie wieder freigelassen.

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Im März 2021 folgte schliesslich der Absturz beim Eurovision Song Contest ESC. Die Band Galasy ZMesta wollte mit einem Song antreten, der indirekt Propaganda für das Lukaschenko-Regime beinhaltete. Die Jury schloss das Land vom Wettbewerb aus. Flavio Razzino

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