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Auslandschweizer Renzo Bersanini (64) über die brenzlige Lage in Venezuela
«Maduro ist wie ein kleines Kind»

Seit Jahrzehnten lebt Renzo Bersanini (64) in Venezuela. In Caracas führt der Schweizer ein Unternehmen und erlebt das Chaos hautnah mit. BLICK erzählt er, warum er glaubt, dass die Venezolaner selber Schuld seien, und warum es den Schweizern gut geht.
Publiziert: 29.01.2019 um 19:25 Uhr
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Aktualisiert: 30.01.2019 um 11:12 Uhr
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Reto Bersanini (64) kennt Venezuela besser als die Schweiz. Seit vier Jahrzehnten lebt er im krisengeschüttelten Land, führt dort ein Unternehmen.
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Fabian Vogt, Medellin (Kolumbien)

Herr Bersanini, wie haben Sie die letzten Tage erlebt?
Renzo Bersanini:
Ganz gut. Am Wochenende war ich auswärts Essen, und am Sonntag ging ich in einen Klub. In der Nacht wird zwar geplündert, und man hört immer wieder Schüsse, aber Angst habe ich deswegen nicht. Wir gehen natürlich auch nicht in die gefährlichen Zonen von Caracas. Wir wissen, welche Gebiete wir meiden müssen. 

Ist denn nicht das ganze Land in Aufruhr? In den Medien machen Bilder von Massenprotesten und getöteten Zivilisten die Runde, seit sich Juan Guaidó zum Präsidenten erklärt hat.
Der Aufruhr war vergangenen Mittwoch. Da gingen Hunderttausende auf die Strasse. Aber am Donnerstag sind bereits wieder alle normal arbeiten gegangen.

Das Land versinkt trotzdem im Chaos. Weshalb jetzt? Schlecht geht es Venezuela ja seit Jahren.
Die arme Bevölkerung glaubt nicht mehr, dass die Regierung alle ihre Probleme lösen kann. Mit Guaidó haben sie einen gefunden, der sie motiviert. Sie kommen deshalb von den Armenvierteln runter nach Caracas, um ihre Rechte zu fordern. 

Wie schlecht geht es der Bevölkerung?
Man muss wissen, dass es hier einen riesigen Unterschied zwischen Arm und Reich gibt. Ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung verdienen zu wenig, um ein würdiges Leben zu führen. Das Mindestsalär derzeit liegt bei 10 Dollar pro Monat. 1 Kilo Aufschnitt kostet aber 25 Dollar, 1 Liter Olivenöl 40 Dollar, und für einen Hamburger im McDonald's müssen die Leute zwei Wochen arbeiten. Auf der anderen Seite sind die Luxusrestaurants jeden Tag voll, weil es noch genug Menschen gibt, die in Venezuela sehr viel Geld verdient haben.

Sie gehören wohl zu den reicheren 20 Prozent.
Naja, mir geht es relativ gut. Wie fast allen Schweizern, die ich hier kenne. Allerdings ist die Realität, dass es langsam auch für uns schwieriger wird. Weil niemand mehr in Venezuela Geschäfte machen kann, haben wir in den letzten fünf bis sechs Jahren hauptsächlich vom Eigenkapital gelebt.

Sie sagten, die Bevölkerung glaube jetzt nicht mehr an die Regierung. Dabei wird Maduro seit Jahren kritisiert.
Aber vor allem im Ausland. Zwar ist er auch hier verhasst, aber über die Venezolaner muss man wissen: Sie sind in erster Linie an einem gemütlichen Leben interessiert. Oder böser: Sie leben in der Tag hinein, nach dem Motto: «Was morgen ist, werden wir sehen.»

Das müssen Sie ausführen.
Ich liebe dieses Land wirklich. Doch ein Grossteil der Venezolaner waren immer Leute, die sich von der Regierung durchfüttern liessen. Immer wieder hat diese es geschafft, das Volk ruhigzustellen. Beispielsweise ist das Benzin nun gratis, weil der Tankwart keine Noten mehr wechseln kann, da es keine Münzen mehr gibt. Das gefällt den Leuten natürlich. Um die jetzige Krise zu überstehen, hat die Regierung die Mindestlöhne um 300 Prozent angehoben und bezahlt die Differenz selber. Zudem wurden den Menschen monatliche Billig-Essenslieferungen versprochen. Doch während solche Massnahmen in der Vergangenheit fruchteten, sieht es derzeit anders aus.

Weshalb?
Einerseits nützt die Anhebung der Löhne kaum etwas. Es hat nur dazu geführt, dass Venezuela nun das verhältnismässig mit Abstand teuerste Land der Welt ist. Und die versprochenen Essenskisten kommen zwar, enthalten aber oft sehr schlechte Ware. Teilweise solche, die von anderen Ländern abgelehnt wurde. 

Da müsste die arme Bevölkerung ja verhungern. Wie kann sie überleben?
Sie braucht kaum Geld und ist es gewohnt, mit  sehr wenig auszukommen. Sie geht sie beispielsweise nicht Lebensmittel einkaufen, sondern ernährt sich hauptsächlich von Mais. Zudem sind ja rund vier Millionen Venezolaner ausgewandert. Wenn die jeden Monat 50 Dollar nach Hause schicken, können ihre Leute überleben. Sie sagen sich dann: «Warum sollte ich mich abmühen, wenn ich ja jeden Monat Geld erhalte?» Wegen dieser Einstellung können die Venezolaner ihre Probleme nicht selber lösen. Es braucht den internationalen Druck. 

Der ist da. Die USA kaufen Maduro kein Öl mehr ab, China und Russland aber haben kein Interesse an einem Wechsel an der Spitze. Weshalb?
Weil sie einiges zu verlieren haben. Venezuela hat riesige Schulden bei China und zahlt diese in Öl-Lieferungen ab, weil China den Rohstoff braucht. Auch von Russland hat die Maduro-Regierung sehr viel Kredit erhalten. Beide Länder haben Angst, dass bei einem Wechsel auf ihren Forderungen sitzenzubleiben. 

Also begrüssen Sie den Kurs der USA?
Ja, ganz klar. Die Drohung, dass der grösste Erdölimporteur nichts mehr kauft, funktioniert. Dann wäre das Land wirklich völlig am Ende. Venezuela produziert seit Jahren nichts mehr, sondern importiert nur noch. Internationale Firmen, darunter auch diverse aus der Schweiz wie Zurich oder Roche, sind schon abgezogen oder denken ernsthaft darüber nach, weil sie genug von den Abgaben und Vorschriften der Regierung haben. Aber auch sie haben über 20 Jahre lang sehr gute Geschäfte im Land gemacht.

Glauben Sie an einen Wandel? 
Ja, den wird es geben. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass es den Armen danach besser gehe. Genau wie freie Wahlen eine Illusion sind. Schauen Sie: Wenn Europa fordert, in 8 Tagen solle es Neuwahlen geben, ist das sehr unrealistisch. Die 20 Leute mit den besten Chancen sitzen allesamt im Gefängnis oder sind auf 20 Jahre aus dem politischen Schaffen ausgegliedert worden. Da wird es also noch länger keine freien Wahlen geben.

Aber Maduro geht? 
Maduro ist wie ein kleines Kind: Er quengelt, bis ihm einer eine Ohrfeige verpasst. Danach bremst er und überlegt sich, was er noch probieren könnte. Neustes Beispiel sind die US-Diplomaten: Maduro sagte zwar, die müssen innert 72 Stunden raus. Aber mittlerweile ist die Frist verstrichen. Nun hat er die Frist auf 30 Tage verlängert. Maduro stellt einfach Forderungen und schaut, was das Ausland macht. Wenn niemand reagiert, super. Wenn jemand böse wird, zuckt er zusammen. Für mehr fehlt ihm die Intelligenz. Irgendwann, ich schätze in wenigen Wochen oder Monaten, wird er täubelnd davonlaufen. 

Ein harter Kurs des Auslands würde also helfen, Maduro wegzubringen?
Ich bin überzeugt, es ist die einzige Lösung. Aber nicht nur wegen Maduro, sondern wegen des Militärs. Die beherrschen hier alles: die Politik, die Justiz und die Wirtschaft. Sie wissen aber auch, dass sie verfolgt würden, sollten sie nun gehen. In den letzten Jahren sind einfach zu viele Milliarden Dollar durch Korruption und anderes verschwunden. Und all diese Leute sind ja allen bekannt, ein paar Beispiele: Alejandro Andrade, früher der engste Freund von Chavez (Hugo, Vorgänger von Maduro als Staatschef Venezuelas, Anm. der Redaktion), ist in den USA zu 10 Jahren Knast verurteilt worden wegen Korruption und Geld-Verschiebung. Ein anderer ist von den USA in Abwesenheit verurteilt worden, und den sieht man in Caracas in den besten Restaurants das Leben geniessen. Natürlich mit Wissen und Schutz der hiesigen Regierung. Derzeit kommt es mir vor wie ein Schachspiel. Alle Spieler versuchen sich zu positionieren und warten ab, was der Gegner macht. Nun warten wir, welchen Zug die Regierung als Nächstes zieht.

Allein kann sich Venezuela also nicht mehr helfen?
Nein, unmöglich. Die wollen und können das nicht. 60 Prozent der Bevölkerung haben es nur bis in die 6. Klasse geschafft, die Zahl der Analphabeten nimmt wieder zu. Und der Präsident ist ja auch nicht der Klügste. Da kann man nicht erwarten, dass solche Leute langfristig planen und handeln. Ein Beispiel: Vor 15 Jahren wurden 3,5 Millionen Barrel Öl pro Tag gefördert. Heute noch 1,1 Millionen. Nicht, weil es weniger Öl geben würde. Sondern, weil niemand etwas für die Unterhaltung tat – obwohl dafür offiziell viel Geld ausgegeben wurde. Dasselbe geschah mit anderen Industrieanlagen. Nun gibt es kein Wasser mehr, teilweise keinen Strom, kein Gas. Wer kein Gas mehr hat, steht dafür halt sieben Stunden an, um seine Flasche auswechseln zu können.

Sie auch?
Nein, das muss ich nicht. Ich zahle vier Dollar, dann erhalte ich eine neue Flasche. Wie schon gesagt, hier ist alles korrupt. Mit Geld kriegt man fast alles.

Die medizinische Versorgung soll ebenfalls ein riesiges Problem sein, vor allem wegen schlechter Ärzte.
Auch das ist eine Frage des Geldes. Ich habe kürzlich für eine Prostata-Untersuchung zwar stolze 120 Dollar bezahlt, aber mein Arzt ist hervorragend, ausgebildet an den besten Unis der Welt. Von solchen Spitzenkräften gibt es viele, aber nicht für die Armen. Die müssen zu Gratisärzten gehen, die von der Regierung bezahlt werden und vielleicht zwei Jahre studiert haben. Die kommen dann mit mehr Problemen aus dem Spital, als sie zu Beginn hatten. 

Maduro wird von der Bevölkerung für die Probleme verantwortlich gemacht. Sonst gäbe es nicht diesen Aufruhr.
Natürlich hassen die Menschen Maduro dafür, was er ihrem Land angetan hat. Aber sie sind eben auch mit wenig zufrieden. Und die Regierung ist erfinderisch. Beispielsweise gibt es seit neuem grössere Probleme mit dem öffentlichen Verkehr. Die Arbeitswege werden so 2-3 Stunden länger. Die Regierung hat nun einfach Arbeitsgesetze geändert, womit viele Menschen besänftigt wurden. 

Sie selber führen ebenfalls einen Betrieb, sind Faber-Castell-Vertreter in Venezuela. Wie gut läuft das Geschäft?
Überhaupt nicht gut. Derzeit gibt es kaum etwas zu tun. Ich musste deshalb meinen Personalaufwand massiv reduzieren. Bloss weiss die Regierung natürlich, dass fast niemand mehr Arbeit hat. Und wer nicht arbeitet, ist unglücklich und fängt an zu kritisieren. Deshalb wurde ein Gesetz erlassen, laut dem keine Leute mehr entlassen werden dürfen. Ich habe trotzdem meine Belegschaft von 60 auf 10 Angestellte reduziert, indem ich Abfindungen bezahlt habe. Die Übergebliebenen haben leider trotzdem kaum etwas zu tun, so sitzen sie einfach im Büro herum den ganzen Tag. Allerdings muss man auch sagen, dass die mich lediglich 50 Dollar pro Monat kosten, den Rest zahlt die Regierung. Zwar habe ich natürlich noch andere Kosten, aber insgesamt sind diese tief genug, dass ich noch eine Weile so weitermachen kann. 

Das klingt, als würden Sie bleiben. 
Wenn ich gehen könnte, würde ich es mir überlegen. Aber wohin soll ich in meinem Alter? Die Schweiz ist mir zu teuer. Und irgendwo neu anzufangen, darauf habe ich keine Lust. Ich bin dem Land auch sehr dankbar, in den vergangenen 40 Jahren habe ich sehr gut gelebt in Venezuela, und da will ich nicht einfach alles stehenlassen. Zudem bin ich überzeugt, dass es dem Land irgendwann wieder besser geht. Die ganze Welt wartet ja darauf, hier zu investieren, weil es nichts mehr gibt. Wenn also jemand Automechaniker oder Koch gelernt hat in der Schweiz, kann er hier eine riesige Karriere machen, weil er so viel besser ausgebildet ist als alle anderen. Auch werden die Grossfirmen zurückkommen, wie auch die ausgewanderten Venezolaner, denen es im Ausland ziemlich mies geht. Ich bin überzeugt, sobald es wieder aufwärts geht, werde ich die Verluste der letzten paar Jahre innert Jahresfrist aufgeholt haben.

Und wann geht es dem Land wieder besser?
Das weiss ich nicht. Aber wir sind optimistisch, dass es nicht mehr lange dauert. 

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