Im Mittelmeer zeichnet sich eine neues Eskalation in der Flüchtlingskrise ab. Ein weiteres deutsches Rettungsschiff, die «Alan Kurdi» mit 65 aus Seenot geretteten Migranten an Bord, hat Kurs auf Italien genommen.
Das erinnert an das Drama Ende Juni, als Carola Rackete, die junge deutsche Kapitänin des Rettungsschiffs «Sea-Watch 3», mit geretteten Migranten Kurs auf die italienische Insel Lampedusa nahm. Insgesamt 53 Menschen hat Rackete das Leben gerettet - und wurde dafür verhaftet.
Was Greta Thunberg (16) für die Klimabewegung ist, ist Rackete für die Flüchtlingspolitik. Sie ist kontrovers, doch kühl und bestimmt. Als sie nach langen Verhandlungen trotz Verbots nach Lampedusa einlief, gingen ihre Worte «Ich bringe sie jetzt in Sicherheit» um die Welt.
Handlangerin von Menschenschleppern?
Rackete durchbrach eine Sperre der italienischen Sicherheitskräfte und wurde auf der Stelle verhaftet. Anwohner und Aktivisten bejubelten und verdammten sie. Ihr drohten mehrere Jahre Haft.
Zum Zorn von Italiens Innenminister Matteo Salvini (46) von der rechtsradikalen Lega wurde Rackete von einem milden Richter bald freigelassen. Rackete tauchte unter. Jetzt gab sie dem Magazin «Spiegel» das erste Interview seit ihrer Freilassung.
Kritiker bezeichnen Rackete als Handlangerin von Menschenschleppern, die Menschenhandel unterstütze. Rackete wehrt sich. 17 Tage habe sie auf See in Not und Chaos verbracht und dann handeln müssen.
Zynische europäische Flüchtlingspolitik
Ihre Verzweiflungstat sieht sie die Antwort auf eine zynische europäische Flüchtlingspolitik, die ertrinkende Migranten nicht länger rettet, damit Flüchtlingszahlen zurückgehen.
Rackete habe nicht in Erscheinung treten wollen, sagte sie dem «Spiegel». Sie sei nur für einen Kollegen eingesprungen. Und die medizinische und hygienische Situation an Bord sei immer schlimmer geworden.
Man habe mit den italienischen Behörden verhandelt und verhandelt: «Es hiess immer, wir machen was. Aber es hat sich einfach keine Lösung abgezeichnet, nichts Konkretes.»
Handeln aus Verantwortung
Eine «Lösung stehe bevor, in den nächsten Stunden sei sie da», hätten ihr auch italienische Parlamentarier versichert. Stattdessen «kam die Guardia di Finanza an Bord und übergab mir Papiere: Gegen mich werde wegen unerlaubten Einfahrens in die Territorialgewässer und Beihilfe zur unerlaubten Einreise ermittelt.»
Sie fragte, was jetzt mit den 40 Geretteten geschehe. Die Beamten winkten ab und aus Berlin hiess es, dass Salvini eine Lösung doch wieder blockiere. «Eine weitere Nacht mit den Flüchtlingen wollte ich nicht mehr verantworten», so Rackete. «Ich habe dann entschieden einzulaufen.»
Als sie im Hafen ankam, habe sich die Polizei «mit Blaulicht in den Weg gestellt», um zu verhindern, dass Rackete anlegt. Es kam zu einem Zusammenstoss: «Kein Angriff auf ein Kriegsschiff, wie mir vorgeworfen wurde», sagte Rackete. «Es war ein Unfall.»
Deutschland reichte «heisse Kartoffel» weiter
Dann Fingerabdrücke, Hausarrest, Anhörung in Sizilien. Vom Rummel um ihre Person habe sie nichts mitbekommen. Sie wisse sehr wohl, wie Italien bei der Europawahl abgestimmt habe, doch es gebe dort auch eine Solidaritätsbewegung.
Salvini? Der sei «niemand, dem ich begegnen möchte«, so Rackete. »Seine Politik verstösst gegen Menschenrechte. Seine Art, sich auszudrücken, ist respektlos, für einen Spitzenpolitiker ist das nicht angemessen.»
Auch Deutschland habe sie alleingelassen. Rackete: «Mein Eindruck war, dass auf nationaler und internationaler Ebene niemand richtig helfen wollte. Die haben die heisse Kartoffel immer weitergereicht.» (kes)