Die Schweiz lässt die Botschaft in Ankara und das Generalkonsulat in Istanbul für die Öffentlichkeit bis auf Weiteres schliessen. Auch Deutschland, Schweden, Grossbritannien und die Niederlande schliessen ihre Vertretungen in der Türkei.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA schreibt auf seiner Internetseite: «Es liegen Hinweise auf eine konkrete terroristische Bedrohung gegen das Schweizer Generalkonsulat in Istanbul vor». Das Risiko von Terroranschlägen bestehe grundsätzlich jederzeit im ganzen Land, vor allem in den grösseren Städten.
Blick erklärt zusammen mit dem Tessiner Terror-Experten Stefano Piazza (55), wie es zur akuten Terrorgefahr kommt.
Warum liess die Schweiz ihre Botschaft und das Generalkonsulat schliessen?
Seit vergangenen Freitag gibt es konkrete Hinweise, dass Terror-Anschläge bevorstehen. Die Hinweise seien von den Geheimdiensten gemeldet worden, sagt Stefano Piazza, Buchautor und Mitglied des italienischen Observatoriums für Fundamentalismus und Terror durch Dschihadismus (OFT).
Um welche Art von Terroranschlägen geht es?
Die westlichen Vertretungen in der Türkei fürchten islamistische Attentate. Nach einigen öffentlichen Koran-Verbrennung durch Rechtsextremisten in Schweden und Dänemark sei das Sicherheitsrisiko in Städten wie Istanbul gewachsen, hiess es in einer Mitteilung des deutschen Auswärtigen Amts. Man fürchtet Vergeltungsschläge.
Wer steckt hinter den befürchteten Attentaten?
Terror-Experte Stefano Piazza geht von drei möglichen Szenarien aus. Es könnte ein sogenannter «einsamer Wolf» zuschlagen, also ein Einzeltäter, der sich für die Beleidigung des Islams durch die Koran-Verbrennungen rächen will. Aber auch von türkischen radikalen Organisationen wie den «Grauen Wölfen» geht eine Gefahr aus. Nicht zuletzt drohen neue Bombenanschläge durch den IS oder Al Kaida.
Warum droht gerade jetzt eine Terrorwelle des IS?
Seit einigen Monaten rufen Dschihadisten in ihrer Propaganda wieder verstärkt zu Terrorakten in Europa auf. Sie nutzen den Ukraine-Konflikt, da sich die internationalen Geheimdienste zurzeit auf den Krieg konzentrieren und damit abgelenkt scheinen. Es gibt viele IS-Kämpfer in der Türkei, das erhöht die Gefahr zusätzlich. Weltweit herrsche eine alarmierende Anspannung ähnlich der Situation vor dem 11. September 2001, sagt Stefano Piazza.
Die Koran-Verbrennungen in Schweden verärgern den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (68). Er droht, den Beitritt Schwedens zur Nato zu verhindern. Das wiederum dürfte den Kreml freuen und schwächt das nordatlantische Militärbündnis, zu dem ja auch die Türkei gehört. Welches Spiel spielt Erdogan?
Experte Stefano Piazza sieht die Beziehungen Erdogans zur Nato und zum Kreml mit Ambivalenz. Der türkische Präsident sei Putin sehr gewogen, sagt Piazza. Erdogan sei der Handel mit Russland wie beispielsweise die Weizenlieferungen sehr wichtig, nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen. Der Nato hingegen fühle sich der Autokrat nicht wirklich verpflichtet.
Steckt der lange Arm Putins hinter den antiislamischen Protesten vor der türkischen Botschaft in Stockholm?
Tatsächlich wurden die Gebühren für die provokative Demonstration des rechtsextremistischen Politikers Rasmus Paludan (41) vor der türkischen Botschaft von einem Putin-freundlichen Journalisten bezahlt. Dass Wladimir Putin (70) aber ein Interesse an islamistischen Terrorakten haben könnte, hält Stefano Piazza für unwahrscheinlich. «Putin hat zahlreiche Islamisten im eigenen Land, die sein Regime seit dem blutigen Tschetschenienkrieg (1999-2009) hassen. Eine neue Terrorwelle könnte auch Russland ergreifen», sagt der Tessiner Sicherheitsexperte.
Wie reagiert die Türkei auf die Terrorwarnung?
Die Schliessung der diplomatischen Vertretungen empört den türkischen Innenminister. Süleyman Soylu (53) spricht in einer Rede von einer Verschwörung, gar von einem neuen psychologischen Krieg. Der Westen wolle den touristischen Aufschwung des Landes bremsen. Das Ziel der Verschwörung sei, so der Minister auf Twitter, «die Stabilität und den Frieden der Türkei zu überschatten».
Sollte man eine Türkeireise jetzt besser absagen?
Das EDA erwähnt bei seinen Reisehinweisen für die Türkei die erhöhte Gefahr von Terroranschlägen. Reisende sollten Massenansammlungen meiden, nur tagsüber reisen und auf Fahrten auf ländlichen Strassen verzichten. Dringend abgeraten wird nur das Reisen in die Grenzgebiete zu Syrien und Irak, also in die Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Sanliurfa, Diyarbakir, Bingöl, Mardin, Batman, Bitlis, Siirt, Sirnak, Hakkari, Van, Agri und Igdir. Davon ausgenommen sind die Städte Antakya, Diyarbakir, Gaziantep, Mardin und Sanliurfa unter der Voraussetzung, dass die An- und Abreise mit dem Flugzeug erfolgt.