Asyl-Experte Peter Arbenz zum Balkan-Plan
«Es reicht nicht, einfach nur Lager zu bauen»

Was steckt hinter den Versprechen der 13 Länder am gestrigen Westbalkan-Gipfel in Brüssel? Peter Arbenz (78), der anerkannteste Experte für Asyl- und Flüchtlingsfragen in der Schweiz, gibt Blick.ch Auskunft.
Publiziert: 26.10.2015 um 21:29 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 21:30 Uhr
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«Die Asylpolitik muss europaweit vereinheitlicht werden»: Arbenz spricht mit Blick.ch über mögliche Lösungsansätze zur Flüchtlingskrise.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Gregory Remez

Herr Arbenz, Brüssel hofft mit dem gestern verabschiedeten 17-Punkte-Plan auf eine Entschärfung der Flüchtlingskrise. Wie schätzen sie die Ergebnisse des Gipfels ein?
Das sind natürlich keine Patentlösungen, sondern einige Bausteine hierfür. Ein konstruktiver Beitrag, auf den weitere Massnahmen folgen müssen. Aber es ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Das schwierige bei solchen Massnahmen ist immer, dass die Bevölkerung ebenfalls mit an Bord sein muss. Innenpolitisch sind Flüchtlingsfragen für die Regierungschefs der einzelnen Länder daher besonders heikel. Da kann man keine Quantensprünge erwarten. Man bedenke nur, welchen Aufschrei es in der Schweiz jedes Mal gibt, wenn es um die Aufnahme von nur einigen hundert Asylsuchenden geht.

Griechenland soll bis Ende Jahr 30'000 neue Aufnahmeplätze schaffen. Auf der ganzen Route sollen insgesamt 100'000 Plätze entstehen. Doch: Derzeit erreichen die griechischen Inseln täglich bis zu 10'000 Menschen. Sind die Massnahmen nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Die EU hat seit längerer Zeit versprochen, Griechenland und Italien vom Flüchtlingszustrom zu entlasten. Diesem Versprechen versucht man in Brüssel nun nachzukommen. Ausserdem hat die EU zugesagt, 40'000 in Griechenland registrierte Flüchtlinge umzuverteilen. Ich finde, man sollte immer Respekt vor der Umsetzung eines solchen Beschlusses haben – es sind immerhin 100'000 neue Plätze. Es reicht ja nicht, einfach nur Lager für die Menschen zu bauen. Es braucht Betreuer, die sich rund um die Uhr um die Asylsuchenden kümmern. Es braucht Essen, medizinische Versorgung. Das sind alles Faktoren, die zu berücksichtigen sind.

Sorgen bereitet den EU-Verantwortlichen vor allem der nahende Winter. Die Flüchtlinge drohen in den überfüllten Auffanglagern entlang der Westbalkanroute zu erfrieren. Wie lässt sich diese humanitäre Katastrophe abwenden?
Entlang der Balkanroute sind die Flüchtlingscamps nur dürftig eingerichtet, kein Vergleich zu den beheizten Zelten in der Schweiz. In dieser Region sind die Flüchtlinge ganz besonders auf humanitäre Hilfe angewiesen. Hierfür werden zusätzliche finanzielle Mittel benötigt, zum Beispiel für den UNHCR, das IKRK und MSF.

Der slowenische Ministerpräsident Miro Cerar malte am Wochenende ein düsteres Bild und warnte vor einem baldigen Kollaps der Europäischen Union. Teilen Sie seine Einschätzung?
Das sind sehr grosse Worte. Ich bin mir sicher, dass er das nicht direkt so gemeint hat. Ich denke, hier spricht vielmehr die Enttäuschung über die mangelnde Solidarität mancher europäischer Staaten aus ihm. Wenn die europäische Solidarität nicht mehr greift, dann hat Europa zwar ein zunehmendes Identitätsproblem, zerbrechen wird sie daran aber nicht.

Apropos mangelnde Solidarität: Viktor Orbán machte beim Gipfel einmal mehr keinen Hehl daraus, dass er sein Land nur noch als «Beobachter» der Flüchtlingskrise sieht. Kann Europa die Krise ohne Ungarn bewältigen?
Absolut. Doch irgendwann wird man Ungarn wieder in die Pflicht nehmen müssen. Wie sich das Land in den vergangenen Monaten verhalten hat, widerspricht allen Werten, für die die EU steht. Es ist eine Verletzung internationaler Konventionen und des humanitären Völkerrechts. Offenbar hat Orbán vergessen, was Westeuropa seinerzeit für die Ungarn getan hat.

Was wären zwingend notwendige Massnahmen in Europa, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu kriegen?
Auch hier gilt: Es gibt keine Patentlösung. Es braucht eine Reihe von Instrumentarien. Zum einen müsste die Asylpolitik europaweit vereinfacht und vereinheitlicht werden. Heute ist jeder Staat für die Asylpolitik selber zuständig, zur Bewältigung einer derartigen Krise bräuchte es allerdings grossflächige, europaweite Lösungsansätze. Zum anderen sind Regelungen notwendig, die in Situationen wie diesen, Ausnahmen vom Dublin-Abkommen zulassen und so die Erstasyl-Staaten entlasten würden, beispielsweise mit einem Verteilschlüssel. Die EU ist aber bereits vereinzelt daran, Letzteres umzusetzen – etwa in Griechenland.

Schlüsselpunkte des Sondergipfels in Brüssel

Nach Wochen der gegenseitigen Schuldzuweisungen konnten sich die Staats- und Regierungschefs von zehn betroffenen EU-Ländern und den drei Nicht-EU-Staaten Mazedonien, Serbien und Albanien gestern Abend in Brüssel auf einen 17-Punkte-Plan zur Entschärfung der Flüchtlingskrise einigen.

Dieser sieht unter anderem vor, dass andere EU-Staaten innerhalb einer Woche mehr als 400 zusätzliche Grenzschützer in das vom Flüchtlingsandrang überforderte Slowenien schicken. Ausserdem soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Grenzen besser absichern, etwa zwischen Griechenland, Mazedonien und Albanien sowie an der kroatisch-serbischen Grenze.

Weiter soll Griechenland - auch mithilfe des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR - 50'000 neue Aufnahmeplätze für Flüchtlinge schaffen, davon 30'000 bis Jahresende. Auf der ganzen Route sollen insgesamt 100'000 Plätze entstehen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker malte ein düsteres Bild der Lage auf der Balkanroute: Es könne nicht sein, dass im Europa des Jahres 2015 «Menschen sich selbst überlassen werden, dass sie auf dem Feld schlafen und bei eiskalten Temperaturen bis zur Brust durch Flüsse waten».

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem «wichtigen Treffen», plädierte aber auf mehr Zeit zur Lösung des Problems. «Nicht lösen können das Flüchtlingsproblem insgesamt. Da bedarf es unter anderem natürlich weiterer Gespräche mit der Türkei.» Abschliessend sagte die Bundeskanzlerin: «Wir sind alle humanitären, menschlichen Werten verpflichtet.» Doch hätten die Bilder, die man in den letzten Tagen gesehen habe, nicht dem entsprochen, «was unsere Werte sind».

Nach Wochen der gegenseitigen Schuldzuweisungen konnten sich die Staats- und Regierungschefs von zehn betroffenen EU-Ländern und den drei Nicht-EU-Staaten Mazedonien, Serbien und Albanien gestern Abend in Brüssel auf einen 17-Punkte-Plan zur Entschärfung der Flüchtlingskrise einigen.

Dieser sieht unter anderem vor, dass andere EU-Staaten innerhalb einer Woche mehr als 400 zusätzliche Grenzschützer in das vom Flüchtlingsandrang überforderte Slowenien schicken. Ausserdem soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Grenzen besser absichern, etwa zwischen Griechenland, Mazedonien und Albanien sowie an der kroatisch-serbischen Grenze.

Weiter soll Griechenland - auch mithilfe des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR - 50'000 neue Aufnahmeplätze für Flüchtlinge schaffen, davon 30'000 bis Jahresende. Auf der ganzen Route sollen insgesamt 100'000 Plätze entstehen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker malte ein düsteres Bild der Lage auf der Balkanroute: Es könne nicht sein, dass im Europa des Jahres 2015 «Menschen sich selbst überlassen werden, dass sie auf dem Feld schlafen und bei eiskalten Temperaturen bis zur Brust durch Flüsse waten».

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem «wichtigen Treffen», plädierte aber auf mehr Zeit zur Lösung des Problems. «Nicht lösen können das Flüchtlingsproblem insgesamt. Da bedarf es unter anderem natürlich weiterer Gespräche mit der Türkei.» Abschliessend sagte die Bundeskanzlerin: «Wir sind alle humanitären, menschlichen Werten verpflichtet.» Doch hätten die Bilder, die man in den letzten Tagen gesehen habe, nicht dem entsprochen, «was unsere Werte sind».

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