Der Ort passt perfekt: Dame Linda Partridge (69) schlägt als Treffpunkt für das Interview die «Health Bar» (deutsch: Gesundheitsbar) am World Economic Forum (WEF) vor. Hier schlürfen die Teilnehmer-Smoothies, bevor es zum nächsten Meeting geht. Die Engländerin, eine weltweite Koryphäe auf dem Gebiet der Altersforschung, macht nicht den Eindruck, als sei sie jeglichen Genüssen abgeneigt. Dass gesunde Ernährung aber wichtig ist, daran lässt sie keinen Zweifel.
BLICK: Frau Partridge, die Lebenserwartung steigt von Jahr zu Jahr. Wo liegt die biologische Grenze?
Linda Partridge: Der Weltrekord liegt mittlerweile bei 122,5 Jahren. Das ist absolut unglaublich. Und der Durchschnitt steigt ebenfalls. Von den Neugeborenen heute dürfte jedes fünfte 100 Jahre alt werden. Die Daten zeigen, dass diese Entwicklung bis mindestens 2030 anhält. Wo die Grenze liegt, wissen wir nicht.
Letztes Jahr starben erstmals mehr Menschen an Krebs als an Herzkrankheiten. Was steckt dahinter?
Vor allem die Fortschritte bei der Behandlung von Herzkrankheiten. Die Leute sind sich bewusster, wie wichtig körperliche Aktivität und ausgewogene Ernährung sind. Die entscheidende Rolle spielen aber Medikamente. Im Alter steigen der Blutdruck und damit das Risiko von Herzinfarkten. Zum Glück nehmen heute immer mehr Leute Blutdruck- und Cholesterinsenker. Sie sorgen dafür, dass viele Krankheiten nicht oder erst später ausbrechen.
Wo liegt das Geheimnis eines langen Lebens – in den Genen, dem Lifestyle oder bei den Medikamenten?
Es sieht ganz danach aus, dass die Gene nur eine Nebenrolle spielen. Der genaue Anteil variiert je nach Untersuchung, aber er ist nie höher als 20 Prozent. Wahrscheinlich liegt er sogar unter zehn Prozent.
Erstaunlich!
Es bedeutet, dass wir mit unserem Lebensstil viel zu einem langen Leben beitragen können. Wie? Es gibt natürlich die offensichtlichen Dinge, wie das Rauchen aufzugeben. Entscheidend ist aber auch, dass man aktiv bleibt und gesund isst, wenn man älter wird.
Es liegt also an uns selbst, wie gesund wir sind?
Ein grosser Teil unseres Schicksals liegt tatsächlich in unseren eigenen Händen. Gleichzeitig sollten sich Menschen aber nicht selbst die Schuld geben, wenn sie krank werden. Auch Leute, die nie geraucht haben, nur mässig trinken und gesund essen, können an Krebs oder Demenz erkranken.
Und gegen diese Krankheiten lässt sich nichts tun?
Doch. Tierversuche liefern starke Belege, dass sich der Ausbruch von altersbedingten Krankheiten verzögern lässt. Ich bin überzeugt, dass wir ähnliche Fortschritte erreichen können wie bei Herzkrankheiten. Es gibt vielversprechende Medikamente, die vorbeugend wirken gegen Krebs und Demenz. Allerdings sind sie noch in der Entwicklungsphase.
Sie arbeiten selber an der Entwicklung einer sogenannten Polypill, einer Multipille, die gegen mehrere Krankheiten wirken soll. Worum geht es da genau?
Der Alterungsprozess ist sehr kompliziert. Wahrscheinlich muss man mehr als einen Aspekt ins Auge fassen, um den Menschen Schutz zu bieten vor altersbedingten Krankheiten. Präventionspillen werden deshalb mehr als nur einen Wirkstoff enthalten. Deshalb redet man von Polypillen. Bei Herzkrankheiten sind solche zwar nicht verbreitet. Aber eigentlich gibt es keinen Grund, warum man Blutdruck- und Cholesterinsenker nicht in einem Medikament kombinieren sollte.
Warum werden Frauen eigentlich älter als Männer?
Ich weiss nicht, ob das jemand wirklich versteht. Historisch gesehen, handelt es sich um ein relativ junges Phänomen. Geburten waren früher sehr gefährlich, was dazu führte, dass Frauen oft früher starben als Männer. Das ist ein Faktor, er erklärt aber nicht alles. Klar ist aber, dass die Männer aufholen. Der Anstieg der Lebenserwartung betrifft vor allem Männer.
Hat es nicht auch damit zu tun, dass Frauen weniger rauchen und weniger gefährliche Jobs haben?
Das könnte eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass junge Männer viel höhere Risiken eingehen als Frauen und deshalb in diesem Alter häufiger bei Unfällen sterben. Gleichzeitig macht es den Anschein, dass weibliche Sexualhormone, Östrogene, Frauen einen Schutz gegen gewisse Krankheiten bieten. Es könnte eine Mischung dieser Faktoren sein.
Wenn wir besser verstehen, was die Frauen gesund hält, können Männer so lange leben. Was ist eigentlich das Ziel Ihrer Forschung? Das Leben so lange wie möglich zu verlängern?
Für einige Forscher geht es tatsächlich darum. Ich sehe das aber anders. Viel wichtiger, als möglichst lange zu leben, ist es, möglichst lange gesund zu bleiben. Heute steigt zwar die Lebenserwartung, nicht aber die Zeit, in der wir gesund sind. Was zunimmt, ist die Periode der Krankheit am Ende des Lebens. Vor allem bei Frauen ist das der Fall. Sie leben zwar länger, aber die Extrajahre sind gekennzeichnet von Krankheiten. Meine Forschung zielt vor allem darauf ab, diese Periode schlechter Gesundheit zu verkürzen.
In den USA gehen einige Forscher noch viel weiter. Die Google-Tochterfirma Galico will die Endlichkeit des Lebens besiegen und den Tod zu einem lösbaren Problem machen. Halten Sie das für realistisch?
Es gibt auf jeden Fall keinerlei Hinweise dafür. Die Todesraten liegen noch immer stabil bei 100 Prozent. Wenn diese Leute richtig liegen mit ihrer Annahme, haben sie noch einen langen Weg vor sich, um sie zu beweisen.
Ewiges Leben ist ein uralter Menschheitstraum. Wie attraktiv ist seine Verwirklichung?
Wenn das Leben ewig wäre, müsste die Geburtenrate sehr tief sein, damit die Bevölkerungszahl nicht explodiert. Es würde also kaum mehr junge Menschen geben. Sterben könnte man nur noch durch Unfälle. Das hätte zur Folge, dass die Menschen keinerlei Risiken mehr eingehen würden. Die Mentalität würde sich komplett ändern. Einige Leute mögen eine solche Welt attraktiv finden, ich gehöre aber sicher nicht dazu.
Die englische Genetikerin Linda Partridge (69) hat mit ihren Experimenten entscheidende Fortschritte in der Altersforschung ermöglicht. Sie leitet das Institut für gesundes Altern am University College in London und ist Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Biologie des Alterns in Köln (D). Sie arbeitet an einer sogenannten Polypill, die präventiv gegen altersbedingte Krankheiten wirken soll. 2009 wurde sie als Dame Commander in den britischen Adelsstand erhoben. Am World Economic Forum (WEF) 2019 war sie Teil der Delegation des Europäischen Forschungsrats (ERC), der ihre Arbeit unterstützt. An ERC-Programmen wie Horizon 2020 nehmen auch Schweizer Forscher und Hochschulen teil.
Die englische Genetikerin Linda Partridge (69) hat mit ihren Experimenten entscheidende Fortschritte in der Altersforschung ermöglicht. Sie leitet das Institut für gesundes Altern am University College in London und ist Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Biologie des Alterns in Köln (D). Sie arbeitet an einer sogenannten Polypill, die präventiv gegen altersbedingte Krankheiten wirken soll. 2009 wurde sie als Dame Commander in den britischen Adelsstand erhoben. Am World Economic Forum (WEF) 2019 war sie Teil der Delegation des Europäischen Forschungsrats (ERC), der ihre Arbeit unterstützt. An ERC-Programmen wie Horizon 2020 nehmen auch Schweizer Forscher und Hochschulen teil.