Auch mehr als zwei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie bleibt eine der wichtigsten Fragen ungeklärt: Wie hat sich der Mensch mit dem Virus infiziert?
Dass es ursprünglich von einer Fledermaus stammt, glauben fast alle Experten. Wie es aber auf den Menschen übertragen wurde, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Eine Mehrheit der Wissenschaftler sagt, die Übertragung sei natürlichen Ursprungs gewesen. Daneben gibt es aber noch die Theorie, das Virus entstamme einem chinesischen Labor in Wuhan.
Diese Annahme erhält dieser Tage neue Nahrung. Roland Wiesendanger – ein Physiker, kein Virologe – greift in der «NZZ» und bei «Cicero» renommierte Wissenschaftler wie Anthony Fauci oder Christian Drosten an und behauptet, diese hätten sich verschworen, um die Labortheorie kleinzuhalten.
Wiesendanger selber veröffentlichte vor ziemlich genau einem Jahr bereits eine Untersuchung, laut der ein Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Auslöser gelten soll. Nun sagt er, seither habe es keine Erkenntnisse gegeben, die ihn daran zweifeln lassen. Allerdings gibt er auch zu, dass es keinen abschliessenden Beweis gebe, dass es aus dem Labor kommt.
Furin-Spaltstelle künstlich oder natürlich entstanden?
Laut dem Hamburger Physikprofessor ist der entscheidende Hinweis die sogenannte Furin-Spaltstelle des Virus. Diese sorgt nebst dem Spike-Protein dafür, dass Corona leicht in den menschlichen Körper gelangt.
Wiesendanger behauptet, das ursprüngliche Fledermaus-Virus besitze keine natürliche Furin-Spaltstelle. Stattdessen sei sie vom Labor in Wuhan experimentell eingepflanzt worden.
Der Deutsche nutzt die Medien, um bekannten Wissenschaftlern wie Christian Drosten an den Karren zu fahren. Drosten erklärte die Labor-Theorie gemeinsam mit anderen Virologen und Wissenschaftlern bereits im Frühjahr 2020 in der Medizin-Zeitschrift «The Lancet» zur «Verschwörungstheorie». Nun schlägt der Physikprofessor zurück. Er wirft Drosten und Kollegen vor, die Öffentlichkeit gezielt getäuscht zu haben.
«So etwas hat es noch nie gegeben»
«So etwas hat es vermutlich noch nie gegeben, dass eine Gruppe von mehr als zwanzig Vertretern eines Fachgebiets, nämlich der Virologie, die Öffentlichkeit derart in die Irre führt», klagt Wiesendanger an. Er spricht dabei unter anderem auf den erwähnten «The Lancet»-Artikel an. Dieser wurde am 19. Februar 2020 publiziert.
Drei Wochen zuvor, am 1. Februar 2020, nahm Christian Drosten gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern aber an einer Telefonkonferenz mit US-Präsidentenberater Anthony Fauci teil. Darin geht es unter anderem um die Furin-Spaltstelle. Mittlerweile sind Auszüge aus E-Mails an die Öffentlichkeit gelangt, die sich die Wissenschaftler vor und nach der Konferenz schrieben.
Die Wissenschaftler debattierten, ob die Furin-Spaltstelle möglicherweise künstlich erzeugt werden konnte. Wobei es laut Wiesendanger keine echte Diskussion war: «Im Anschluss an die Konferenz ging es darum, wie man diesen Verdacht gegenüber der Öffentlichkeit kommunizieren soll – oder eben nicht.» Es sei dokumentiert, dass diese führenden Virologen innerhalb von drei Tagen, zwischen dem 1. und 4. Februar, ihre Meinung um 180 Grad gedreht hätten. Und diese anschliessend in der Öffentlichkeit vertraten.
«Und es ist auch dokumentiert, dass Anthony Fauci diese Publikation wesentlich beeinflusst hat. Ebenso wurde der offene Brief in der Zeitschrift The Lancet organisiert. Das alles geschah in diesen drei Tagen nach der Telefonkonferenz. Das zeigt meines Erachtens ganz klar, dass es Vertuschungsversuche gab. Und dass die Beteiligten eine ganze Reihe an Unwahrheiten von sich gegeben haben.»
«Gibt einen Strafantrag in Den Haag»
Wiesendanger vermutet, die Wissenschaftler seien von Fauci beeinflusst worden, weil dieser beziehungsweise die USA über grosse Summen von wissenschaftlichen Fördergeldern entscheiden.
Als Beispiel nennt er die Studie des Virologen Kristian G. Andersen in der Fachzeitschrift «Nature» Mitte März 2020. Kein Beitrag habe die Ursprungs-Diskussion so geprägt, sagt Wiesendanger. In der Studie schreibt Andersen in der Einleitung, das Virus sei zweifelsfrei nicht in einem Labor entstanden. Doch Beweise dafür führe Andersen anschliessend nicht an, sagt Wiesendanger.
Warum dann die Einleitung? Wiesendanger: «Am Tag vor seiner Teilnahme an der Telefonkonferenz, am 31. Januar 2020, schrieb Andersen in einer E-Mail an Anthony Fauci, er und zwei seiner späteren Mitautoren seien sich einig, dass das Virus nicht natürlich entstanden sei, sondern aus einem Labor entwichen sein dürfte.»
Wiesendanger wird deutlich: «Das hat nichts mit Wissenschaft zu tun, das ist eine Irreführung der Öffentlichkeit.»
Labor-Ursache wäre offenbar wie Hiroshima oder Fukushima
Über Drostens Rolle, der finanziell nicht von Fauci abhängig ist, hat Wiesendanger eine klare Meinung. «Herr Drosten war in der ganzen Diskussion um die Gain-of-function-Forschung (Anm. der Red: biotechnologische Manipulationen an Viren) immer im Lager derjenigen, die gesagt haben, dass virologische Forschung frei von staatlichen Regularien sein muss, dass in der Wissenschaft alles selbst geregelt werden kann und genügend Selbsteinsicht herrsche.»
Er habe eine Bewegung gegründet: die «Scientists of Science». Sie habe zum Ziel, die virologische Forschung frei von Beschränkungen zu halten. Als dann der Laborunfall in Wuhan passierte, hätten die Wissenschaftler gemerkt, sich geirrt zu haben. Das habe die Öffentlichkeit aber unter keinen Umständen erfahren dürfen, weil es eine Katastrophe für die Virologie gewesen wäre.
Wiesendanger: «Es würden dann dieselben Diskussionen geführt wie nach den Atombombenabwürfen und schweren Reaktorunfällen. Das fürchtet man natürlich in der Virologie und will deshalb alles tun, damit diese Vermutung, dieses Verdachtsmoment aus der Welt geschafft wird.»
Drosten habe darum die Verschwörung betrieben. Und zwar mit anderen Virologen zusammen. Gemeinsam hätten alle in die Irre geführt. «Es ist eine absolute Katastrophe, was sich da zugetragen hat – ein Angriff auf die freie Debattenkultur und letztlich auf unsere Demokratie.»
So hart seine Worte klingen, einen Beweis für die Labortheorie hat Wiesendanger nicht. Um das Rätsel zu lösen, müsste für den Wissenschaftler allerdings nur die Datenbank des Forschungslabors von Wuhan online geschalten und der ganze E-Mail-Verkehr nach der Fauci-Konferenz vom 1. Februar eingesehen werden.
Drosten wehrt sich und attackiert die Medien
Christian Drosten verteidigt sich nach dem Interview. Auf Twitter schreibt er: «Cicero bietet einem Extremcharakter die Bühne und provoziert persönliche Angriffe gegen mich durch suggestive Fragen. Antworten werden im Andeutungs- und Wertungsbereich stehengelassen, belastbaren Tatsachenbehauptungen ausgewichen. Das ist kein Interview, sondern ein Vorkommnis.»
Auch auffällig sei, dass «zeitgleich ein bis hin zu Formulierungen inhaltsgleiches Interview» in der «NZZ» erschienen sei. Drosten fragt in die Twitter-Runde: «Betreibt hier jemand eine Kampagne?» Wen er dabei im Verdacht hat, lässt er offen.
Ein paar Stunden teilt er eine wissenschaftliche Studie vom Sommer 2021 mit dem Titel: «Science, not speculation, is essential to determine how SARS-CoV-2 reached humans (‹Es braucht Wissenschaft, keine Spekulationen, um herauszufinden, wie das Corona-Virus den Menschen erreichte›). Dazu schreibt er: «Aus gegebenem Anlass».