Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gings heute ums Ganze. Die Partei des 61-Jährigen, die islamisch-konservative AKP, wollte bei den Parlamentswahlen wieder die absolute Mehrheit holen. So hätte er eine Verfassungsänderung durchboxen können, die in der Türkei ein Präsidialsystem etablieren will und dem Staatsoberhaupt damit mehr Macht zuschanzen würde.
Hätte. Denn Erdogans Plan ging nicht auf. Die AKP kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf gerade einmal 41 Prozent.
Die Kurdenpartei HDP schaffte hingegen den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde und wurde mit 12,5 Prozent viertstärkste Kraft. Die säkulare CHP wurde mit 25 Prozent zweitstärkste Partei, gefolgt von der rechtsgerichteten MHP, die auf 16,5 Prozent kam.
Die AKP erhält damit 259 Sitze im 550 Sitze zählenden Parlament in Ankara, gefolgt von der CHP mit 131 Sitzen und der MHP mit 82 Sitzen. Die HDP stellt künftig 78 Abgeordnete. Die Wahlbeteiligung lag bei 85,4 Prozent.
Folgen bald Neuwahlen?
Nach mehr als zwölf Jahren Alleinregierung muss sich die AKP nun einen Koalitionspartner suchen. Der hochrangige AKP-Politiker Burhan Kuzu sprach sich für Neuwahlen aus. Laut der Verfassung kann der Staatspräsident neue Wahlen anordnen, wenn keine Regierung zustande kommt.
Das Ergebnis ist eine Niederlage für Erdogan, der die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen hatte, obwohl der Präsident nach der Verfassung zur Neutralität verpflichtet ist. Die HDP war mit dem Ziel in den Wahlkampf gezogen, Erdogans geplantes Präsidialsystem zu verhindern, und hatte vor einer «Diktatur» gewarnt.
Als Ziel hatte die von Erdogan mitgegründete AKP 330 Sitze angegeben. Das ist die erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit, um ein Referendum über eine Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems abzuhalten.
Mehrere Tote und über 200 Verletzte
Das Wahlkampfende war von schwerer Gewalt überschattet worden. Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine HDP-Veranstaltung in der Kurden-Metropole Diyarbakir wurden am Freitagabend nach Angaben von Polizei und Ärzten mindestens 3 Menschen getötet und 220 verletzt. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu sagte nach seiner Stimmabgabe laut DHA, ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Der Hintergrund der Tat blieb weiter unklar.
Im Wahlkampf war die HDP immer wieder zum Ziel von Anschlägen und Übergriffen geworden. Nach Angaben des Innenministeriums schützten am Sonntag mehr als 400'000 Sicherheitskräfte die Wahl. Zehntausende Wahlbeobachter waren im Einsatz.
56,6 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen: 53,7 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Bis Ende Mai konnten Auslandstürken in türkischen Botschaften und Konsulaten wählen. Von den 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland gaben gut 480'000 ihre Stimme in der Bundesrepublik ab. (SDA/lha)