«Gomorrha»-Kinderstar wegen Drogenbesitzes verhaftet
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Ehemaliger Gomorrha-Bewohner:«Ich bin damals in die Kriminalität abgerutscht»

Abbruch und Aufbruch
BLICK besucht Mafia-Quartier in Neapel

Das Quartier Scampia in Neapel ist berühmt und berüchtigt. Lange Zeit war es Europas grösster Drogenumschlagplatz und Hochburg der Camorra. BLICK hat das Quartier besucht und mit Bewohnern gesprochen.
Publiziert: 07.07.2020 um 22:36 Uhr
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Aktualisiert: 19.01.2021 um 11:51 Uhr
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Die «Vele di Scampia» in Neapel. Zementmonster, die an Segel erinnern und in denen bis zu 80'000 Menschen wohnen.
Foto: imago images
Flavio Razzino (Text und Fotos)

Sie stehen ikonisch für den armen Süden Italiens. Für die Mafia, die Camorra. Kriminalität. Morde. Die «Vele di Scampia». Zementmonster, die an Segel erinnern und in denen bis zu 80'000 Menschen wohnen. Bis 2008 galt das Quartier mit den riesigen Gebäuden als grösster Drogenumschlagplatz Europas. Nun ist einer dieser Komplexe abgerissen worden – damit verbunden ist die grosse Hoffnung der Neapolitaner, dass die Misere, in der sie leben, bald besser wird.

Auch Emanuele Cerullo (26) träumt davon. Er hat als Achtjähriger zum ersten Mal eine Leiche gesehen – es sollte nicht die einzige bleiben. Der junge Journalist ist in einem dieser Gebäude aufgewachsen und hat BLICK kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie durch das Ghetto geführt.

Als Kind mussten er und seine Brüder auf dem Nachhauseweg schnell den Tanz um Spritzen, Blutlachen und nicht selten auch tote Menschen lernen. Und nachts im Bett hörte er besonders während des Mafiakriegs in den Jahren 2001 bis 2004 immer wieder Schüsse – und danach die Schreie der weinenden Mütter. Er weiss: «Kinder hier müssen sehr schnell erwachsen werden.»

Nährboden für Nachwuchs-Mafiosi

Das verwahrloste Quartier Scampia ist der perfekte Nährboden für die Rekrutierung neuer, meist blutjunger «Mafia-Soldaten». Einer, der als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten ist, heisst Francesco Verde (39). In den Quartieren Scampia und Secondigliano liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 60 Prozent. «Was tust du also als junger Mann, wenn du den ganzen Tag von niemandem gebraucht wirst? Ich und viele andere auch haben damit begonnen, abseits der Legalität schnelles Geld zu verdienen. Diese Alternative bietet sich hier nämlich an jeder Strassenecke», sagt Verde zu BLICK.

Man sieht es ihm an – das Gangster-Leben hat ihn gezeichnet. Narben im Gesicht und an den Armen, ein Hinken beim Gehen: alles Überbleibsel seiner kriminellen Vergangenheit. «Ich kam erst zurück auf die richtige Bahn, als ich endlich einen legalen Job bekommen habe», so Verde. Das war 2003 – doch das Glück währte nicht lange. 2004 machte der Mord an Gelsomina Verde, Francescos Schwester, weltweit Schlagzeilen. Der Brutalität wegen.

Die junge Gelsomina (†22) wurde am 21. November in einem ausgebrannten Auto gefunden – bei der Obduktion stellte man fest, dass ihr mehrmals in den Kopf geschossen wurde, nachdem man sie zuerst stundenlang gefoltert hatte. Der Grund für ihren Tod: «Ihr Freund ist ein Abtrünniger des hier mächtigen Di-Lauro-Clans. Und war damit dem Tode geweiht. Meine Schwester Gelsomina hätte ihn verraten sollen, doch sie verweigerte jede Mithilfe bei der Suche nach ihm. Daraufhin wurde sie bestialisch ermordet», sagt ihr Bruder Francesco. Dieser Mord war der eine Mord zu viel für Politik und Polizei – jetzt konnten sie nicht mehr einfach wegschauen und das Quartier weiterhin sich selbst und der Mafia überlassen.

Gangsterleben ohne Hollywood-Romantik

Und dann veröffentlichte Roberto Saviano 2006 das Buch «Gomorrha», das vielleicht zum ersten Mal überhaupt eine realistische Innenansicht des Mafia-Lebens in Süditalien bot. Abseits der verklärenden Gangster-Romantik, die Hollywood-Filme wie der «Pate» propagierten. Savianos Werk zeigte: Die Mafia bietet den allermeisten jungen Gangstern kein Leben in Luxus – und mit der Ehre ist es auch nicht weit her. Durch das Buch, die Verfilmung und dann auch noch die Sky-Serie «Gomorrha» geriet das Quartier Scampia ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und das scheut die Mafia wie der Teufel das Weihwasser.

So ist Scampia heute nicht mehr eine solche Drogenhölle, als das sie früher bekannt war. Es lungern zwar noch Junkies bei den «Vele di Scampia» rum – und auch zwielichtige Gestalten, die es nur ungern sehen, wenn in ihrer Nähe fotografiert oder gefilmt wird. Aber das Quartier beginnt sich neu zu öffnen. So wohnen auch Menschen wie Francesco Vinci (42) in den heruntergekommenen Gebäuden. «Arbeitslos, pleite – und trotzdem kein Mafioso», wie er sich selber gegenüber BLICK vorstellt. Er hat zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn Nicola (15) 2009 in grösster Not eine Wohnung in einer Vela besetzt. «Ich hatte nur noch zwei Möglichkeiten: Mit Frau und Kind unter der Brücke wohnen – oder eine leere Wohnung hier in Scampia besetzen. Jeder, der leben will, würde sich am Ende so entscheiden wie ich», sagt er. Sein Sohn kämpft sich nun durch den harten Alltag des Quartiers. «Ich habe viele Freunde hier. Wir vertreiben die Zeit mit Fussball und Langeweile. Keiner hier hat Hoffnung auf einen richtigen Job später», sagt Nicola.

Zwei Päpste haben das Quartier besucht – passiert ist wenig

Aber alle hoffen, irgendwann in ein würdevolleres Zuhause ziehen zu können. Das ist nämlich das grosse Versprechen der Stadt Neapel an die Einwohner von Scampia. Mit dem Abriss der Vele soll Platz für neue Wohnungen geschaffen werden, die weniger lebensfeindlich sein sollen. Francesco Vinci glaubt daran, dass das tatsächlich so kommen wird. Journalist Cerullo ist weniger optimistisch und führt aus: «Zwei Päpste haben die Vele schon besucht. Johannes Paul II. im Jahr 1990 – er sagte: ‹Es gibt Hoffnung für euch.› Und Papst Franziskus 2015. Auch er sagte: ‹Es gibt Hoffnung für euch!›» Doch am Grundproblem, der fehlenden Arbeit, habe sich nichts verändert in diesen Jahren, so Cerullo.

Nur das Wort Camorra schreibt niemand

Ist das Mafia-Problem hier wenigstens kleiner geworden? Schaut man die zahllosen Graffiti an den Häusern in Scampia an, glaubt man einen gewissen Aufstand der Zivilbevölkerung gegen die Mafia zu erkennen. Überall stehen Sprüche wie «Das ist nicht Gomorrha». Oder auch – wegen der vielen Abenteuer-Touristen, die aufgrund der TV-Serie durchs Quartier fahren: «Die Vele sind kein Zoo». Emanuele Cerullo versteht die Sprüche und warum sie dort stehen, doch eines wurmt ihn, wie er sagt: «Niemand hier traut sich, dasselbe gegen die Camorra – und eben nicht Gomorrha – zu schreiben. Aus Angst.»

Nur mit dem Abriss der Zementmonster verschwindet die Mafia jedenfalls nicht. Am Dienstag marschierte die Polizei mit einem Grossaufgebot in Scampia und den umliegenden Problemquartieren ein, unterstützt mit Helikoptern. 51 Mafiosi wurden festgenommen. Viele direkt in ihren Wohnungen – in den «Vele di Scampia».

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