Christian F.* hat ein aussergewöhnliches Hobby. Er sammelt Fotos von Grenzen. «Am liebsten stelle ich mich auf die Linie, sodass ein Fuss in einem Land und der andere im anderen Land ist», sagt er zu Blick. Solche Bilder hat er von überall auf der Welt, aus Europa, Nordamerika, sogar Nordkorea.
Am Montag, 6. Juni, sollte seine Sammlung Zuwachs erhalten. Er verabschiedete sich von seinen Freunden. Mit ihnen war er die Tage zuvor in Finnland und Estland unterwegs gewesen. Nun wollte er zur Grenze nach Russland fahren, um seine Sammlung zu ergänzen. Das Problem: Es ist verboten, an die Grenzlinie zu laufen. Und der Ukraine-Konflikt machte die Sache auch nicht einfacher.
Eine russische Strasse in Estland – oder umgekehrt?
Doch es gibt eine Ausnahme: Als Estland und Russland bei der Auflösung der Sowjetunion 1990 eigenständig wurden, blieben die bis dahin geltenden Grenzen – die bis heute offiziell lediglich «Kontrolllinien» heissen – bestehen. Und damit auch der sogenannte Saatse-Stiefel, ein 115 Hektar kleines Grundstück, das zwischen den zwei estnischen Dörfern Lutepää und Sesniki steht. Dieser ist quasi eine russische Bucht, die nach Estland hineinschaut. Warum das so ist, ist nicht überliefert, die lokale Bevölkerung sagt, dieses Land gehörte einem Farmer, der in Russland lebte und das Land wurde Estland nie abgetreten.
Lutepää nach Sesniki werden allerdings einzig über dieses Grundstück verbunden. Estland und Russland haben darum vereinbart, dass die Strasse, auf der gefahren wird, russisch ist, dass es aber keine Grenzkontrollen gibt. Es ist also quasi der einzige Ort, wo man visumfrei in Russland sein kann. Dafür gibt es haufenweise andere Gesetze. So darf auf einem Teil der Strasse weder angehalten noch ausgestiegen werden. Was bereits vielen Touristen zum Verhängnis wurde, die dann von russischen Grenzwächtern mitgenommen wurden.
«Da sprang plötzlich ein Grenzwächter aus den Büschen»
Grenzen-Fan Christian F. kannte natürlich die Regeln, liess diese verbotene Zone mit seinem Mietwagen hinter sich und stieg an einer Stelle aus, an der er auf estnischem Boden war. Die Grenze zu Russland war ja immer noch nebenan. Er nahm sein Handy mit und machte ein paar Schritte, bis er zu einem Schild kam, das ihm das Weiterlaufen verbot.
Vor diesem fotografierte er sich und dachte, sein Ziel erreicht zu haben: Er hatte sich auf einer weiteren Grenzmarkierung verewigt.
«Doch in dem Moment sprang plötzlich ein estnischer Grenzwächter aus den Büschen und gab mir zu verstehen, dass ich mitkommen muss», sagt F. Der Mann habe kein Englisch gesprochen, sei freundlich gewesen, habe ihn aber dazu gezwungen, ins Polizeiauto zu steigen.
80 Euro für 50 Zentimeter
Gemeinsam fuhren sie zur Wache, wo Christian F. erfuhr, was er falsch gemacht hatte: «Die Polizisten sagten mir, dass man nicht näher als zehn Meter an Russland herantreten darf. Das Schild, vor dem ich stand, war aber 9,5 Meter von der Grenze entfernt.» Das sei zwar nicht optimal, hätten die Beamten gesagt, aber nun einmal nicht zu ändern und schlussendlich nicht ihr Problem.
Christian F. bekam eine Busse aufgebrummt. 80 Euro. Er war baff. Und machtlos. Als der in Uster ZH lebende Deutsch-Schweizerische Doppelbürger aber seine Geldbörse hervornehmen wollte, sagten die Polizisten, sie dürften kein Geld annehmen. Sie nahmen stattdessen seine Personalien auf und gaben ihm den Strafzettel in die Hand.
Busse wird nicht bezahlt
F. war nun nicht mehr baff, sondern wütend. Diesen Donnerstag fliegt er zurück in die Schweiz. Mit ihm der Entschluss, dass ihm das doch zu dumm geworden ist: «Ich habe keine Lust mehr, das zu bezahlen. Der Vorfall ist einfach zu lächerlich.»
Nun prüft er, ob ihm die Esten etwas anhaben können, wenn er die Busse einfach in den Papierkorb wirft. Spätestens, wenn er sein nächstes Foto macht, wird er sich aber wieder an diese Episode erinnern. An die Grenze, die er gar nicht übertrat – und für die er trotzdem bezahlen soll.
*Name bekannt