Der Jubel ist verständlich. Neun Jahre lang kämpfte Inter Mailand um den Meistertitel der Serie A, dem sogenannten «Scudetto». Stets holte ihn die Mannschaft des Erzrivalen Juventus Turin. Als am vergangenen Sonntag der Sieg für Inter feststeht, hält es die Mailänder Fans nicht mehr in ihren Wohnungen. Massen ziehen in die Innenstadt. Viele tragen keine Maske. Sie versammeln sich auf dem Domplatz. Dicht gedrängt. Singend. Grölend. Tanzend. Das Bier in der Hand. Nicht nur Freude liegt in der Luft an diesem Abend – womöglich auch eine hohe Virenlast.
Mit grosser Sorge beobachten Experten das Treiben in Mailand. In Italien hat längst die britische Variante den Stammvirus abgelöst. Die Mutation sei tödlicher und würde auch immer mehr junge Menschen ins Spital befördern, sagt Massimo Galli, Direktor der Abteilung für Infektionskrankheiten im Mailänder Spital dem «Milano Today». «Das heisst, wir dürfen nicht mit Bannern auf die Strasse ziehen und feiern. Und das sag ich als Inter-Fan in dritter Generation», so Galli.
Er weist auf neue Studien hin. Danach landen vor allem zwei Altersgruppen mit der Variante B.1.1.7 auf den Intensivstationen: die 40- bis 59-Jährigen und die 20- bis 39-Jährigen. «Es ist einfach nicht die Zeit für grosse Veranstaltungen», mahnt der Mediziner.
Das Virus wird in die Familien getragen
Das Verhalten der Fussballfans vor dem Dom am Sonntagabend sei unverantwortlich, meint auch Fabrizio Pregliasco im «Il Messagero». Der Forscher für Allgemeine Angewandte Hygiene an der Mailänder Universität warnt vor höheren Inzidenzwerten nach solchen Massenansammlungen. «Dies zeigt, wie sehr die Ansteckungsgefahr unterschätzt wird.» Das Virus würde so in die Familien getragen und dort verbreitet. Superspreader-Events könnten eine weitere Corona-Welle auslösen.
Massimo Andreoni nennt die Mega-Party einen grossen Fehler. In einem Interview mit dem TV-Sender Rai sagt der wissenschaftliche Leiter der Mailänder Gesellschaft für Infektionskrankheiten Simit: «Wenn man in der Menge singt und schreit, ist auch im Freien eine Ansteckung sicher. Wir werden die Konsequenzen dafür tragen». In zwei, drei Wochen würden die Neuinfektionen ansteigen. «In vier Wochen folgen die Schwererkrankungen. Und in vier bis sechs Wochen wird es dann die Toten geben» sagt der Corona-Experte.
Fussball-Volk zog spontan und unorganisiert in die Strassen
Italiens Innenministerin ist höchst alarmiert. «Jetzt, wo wir endlich Licht am Ende des Tunnels sehen, riskieren wir, alles zu verspielen», sagt Luciana Lamorgese. Der Leichtsinn am Sonntag sei unverzeihlich und würde ein falsches Signal setzen – nämlich, dass alle wieder frei seien. Unterdessen verteidigt sich Mailands Präfekt. «Wenn ein Volk von Fussballfans spontan und unorganisiert durch die Strassen zieht, um einen langersehnten Sieg zu feiern, dann muss man die Ansteckungsgefahr mit der öffentlichen Ordnung abwägen, um die Sicherheit der Menschen soweit wie möglich zu garantieren», sagt Renato Saccone. «Hätten wir den Domplatz gesperrt, wäre es woanders zu noch riskanteren Massenansammlungen gekommen».
Matteo Salvini schiesst unterdessen gegen Mailands Bürgermeister Beppe Sala: «Hätte man nicht besser 20'000 Fans ins Stadion lassen sollen, wo 80'000 freie Plätzen sind? Hat Mailand noch einen Sindaco?» Dieser erinnert den Lega-Chef ans Corona-Dekret der Regierung. Darin heisst es ganz klar: Die Stadien bleiben für Publikum wegen Corona dicht.