Als ich Yulia zum ersten Mal traf, küsste sie gerade einen Jungen. Sie sagte, ich dürfe sie fotografieren, aber nur, wenn ich das Bild nicht ihrer Mutter zeigen würde. Ich war erstaunt und beeindruckt. Diese Offenheit der Leute von Slawutytsch, der Stadt, die so abgeschieden mitten in einem Wald, nur 40 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt, hatte ich nicht erwartet.
Tschernobyl – das waren für mich gruselige Mutationen, Skelette, trostlose Natur und kaputte Menschen. Wie wohl für die meisten Europäer, die nie da waren. Und so fragte ich Yulia auch, ob sie nicht gefährlich lebe, ob sie nicht Angst habe, krank zu werden. Sie verstand meine Frage nicht, verstand nicht, wie man auf solche Gedanken kommen konnte. Mir wurde bald klar: Für die Bewohner der Stadt bedeutet Tschernobyl nicht Tod, sondern Leben.
Städte ohne Vergangenheit und Zukunft
Das lernte ich in den vier Jahren zwischen 2012 und 2016, in denen ich Yulia und ihre Freunde mit der Kamera begleitete. Aus diesen Begegnungen entstand meine Fotoreportage «White Angel» – eine Anlehnung an das Symbol der Stadt: der weisse Engel. Anfangs interessierte ich mich bloss für die Idee, dass Städte ohne Geschichte und ohne Zukunft entstehen. Slawutytsch ist ein Produkt von Tschernobyl.
Die UDSSR wollte zeigen, dass sie trotz des nuklearen Totalversagens zu Grandiosem fähig war. Als Wiedergutmachung der Schmach. Und so stampfte sie ab 1986 eilig die hochmoderne Retortenstadt aus dem Boden.
Sie sollte Arbeiter und Wissenschaftler aus der ganzen Ukraine aufnehmen, die bereit waren, in dem zu arbeiten, was vom Kernkraftwerk übrig war. Die Kernschmelze traf ja nur einen von vier Reaktoren, die anderen wurden jahrelang weiterbetrieben.
So füllten sich nach und nach die nagelneuen Häuserzeilen mit jungen gut ausgebildeten Paaren, die dort ihre Kinder grossziehen wollten. Heute gehört die Stadt zu jenen mit dem jüngsten Altersdurchschnitt. Meine Arbeit ist ein Zeugnis davon – und von der Generation junger Ukrainer, die das aufbauen, was ihre Eltern zerstört liegen liessen.
Die Stadt wird sterben
Yulia und ihre Freunde liessen mich extrem schnell extrem nah an sich heran. Wenn sie sich im Park betranken, tat ich es auch. Wenn sie Gras rauchten, tat ich es auch. Wenn sie nach Tschernobyl zur Arbeit gingen, tat ich es auch. Ich war dabei, als sie heiratete, ihren alten Job im Handumdrehen gegen einen neuen eintauschte und sich bald wieder scheiden liess. Ich wurde zu einem Teil des Lebens dieser Leute. Yulia ist heute wie eine kleine Schwester für mich, sie lebt wie ich in Kiew und war an meiner Hochzeit.
Diese Menschen leben so sehr im Moment, dass sie sich keine Minute lang wegen der Zukunft Sorgen machen und grosse Lebensentscheide ganz spontan fällen.
Anfangs wunderte mich das. Diese Leute hätten allen Grund dazu, ängstlich in die Zukunft zu schauen. Die Menschen von Slawutytsch müssen damit leben, dass Tausende ihren Job verloren, als im Jahr 2000 der letzte Reaktor stillgelegt wurde. Das Gleiche passierte, als der Neubau der Schutzhülle für den zerstörten Reaktor abgeschlossen war. Und jetzt fehlt die Lebensgrundlage: Wie es mit der Stadt weitergeht, ist unklar. Trotzdem bauen manche ihre Häuser um und denken nicht daran, wegzugehen.
Wir verpassen die Gegenwart
Das zeigte mir eine Schweizer Schwäche auf: Wir sind zu besessen vom Gedanken an die Zukunft. Daran, was alles Schlimmes passieren kann. Wir vergessen, in der Gegenwart zu leben.
Und alle Vorsicht schützt uns letztlich nicht vor einem grossen Problem, das auch die Ukrainer haben: Wir produzieren giftige Atomabfälle, die wir nicht unschädlich machen können. Wir brocken uns so selber komplexe Probleme ein, die wir mit unserem jetzigen Wissen nicht lösen können.
Niels Ackermann gewann mit der Bildreportage «White Angel» 2016 den Swiss Photo Award.