29 Jahre nach der Katastrophe bekommt die Atomruine eine neue Schutzhülle
Das Mega-Grab von Tschernobyl

Die Schutzhülle von Tschernobyl leckt, sie droht einzustürzen. Nach dem GAU von 1986 droht die zweite atomare Katastrophe. Ein neuer Sarkophag soll Schutz bieten – für hundert Jahre. Doch es fehlt an Geld.
Publiziert: 19.04.2015 um 09:39 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:10 Uhr
Von Adrian Meyer (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Die Hunde in Tschernobyl streichelt niemand. Sie dösen auf dem geplatzten Asphalt, das Fell voll von radioaktivem Staub. Wachsam beobachten sie die Menschen, die rund um das ehemalige Kernkraftwerk Wladimir Iljitsch Lenin tätig sind.

Bis zu 4000 Arbeiter kommen täglich. Doch sie produzieren keine Energie. Das geschieht hier schon lange nicht mehr. Sie beseitigen radioaktiven Müll. Und bauen ein neues Grab für die Reaktorruine.

29 Jahre sind seit dem Super-GAU vergangen: Am 26. April 1986 explodierte während eines Tests der Reaktorblock 4, bloss 110 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Katastrophe setzte riesige Mengen radioaktives Material frei. Tausende Quadratkilometer wurden verseucht.

Bis nach Schweden und in die Türkei zog die nukleare Wolke. Noch immer ist die Gegend 30 Kilometer um den Meiler Sperrgebiet, für Hunderte Jahre unbewohnbar. Gleich nach den Löscharbeiten errichteten die Sowjets um den zerstörten Reaktor einen Schutzmantel aus Stahl und Beton. In aller Eile und unter unmenschlichen Bedingungen entstand ein Provisorium, gedacht für 30 Jahre. Heute ist dieser Sarkophag löchrig, es regnet hinein, durch die Ritzen fliegen Vögel, ein rostiges Kartenhaus.

Der Bau droht einzustürzen. Es wäre eine Katastrophe, die Umwelt würde ein weiteres Mal verseucht. Bisher gelangten etwa vier Prozent des strahlenden Reaktorinventars in die Umwelt, etwa fünf Tonnen. Der Rest, rund 180 bis 200 Tonnen Uran, Plutonium und andere hoch radioaktive Elemente, liegen noch immer wie erstarrte Lava im Reaktor, eine strahlende Zeitbombe. Eindämmen soll sie eine neue, grössere Schutzhülle, ein Dom aus Stahl. Silbern schimmert er in der Frühlingssonne, 260 Meter breit und 110 Meter hoch, höher als die Freiheitsstatue in New York. Mit 31 000 Tonnen fast dreimal so schwer wie der Eiffelturm. Ein Konsortium unter der Leitung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung baut ihn für 1,5 Milliarden Euro.

Unter dem Giganten lagern Bauteile. Petro Brytan (35), der die Arbeiten auf der Baustelle koordiniert, blickt nach oben. Er wirkt zufrieden. «Schon jetzt können wir erkennen, wie der Bogen am Ende aussieht», sagt er. «Das ist eine grosse Sache für die Ukraine. Und für die Weltgemeinschaft.»

In der Hand hält er eine kiloschwere Schraube. 650 000 davon halten 16 Stützbögen zusammen. Nur wenige Träger müssen die Arbeiter noch montieren. Die Aussenhülle ist fast fertig. Männer seilen sich ab, um letzte Abdeckungen zu fixieren. Sie wirken klein, wie Ameisen. In zwei Jahren wird der neue über den alten Sarkophag geschoben. Eine kühne Idee: Weil das Reaktorwrack noch immer lebensgefährlich strahlt, versetzte man die Baustelle um 300 Meter nach Westen. Sobald der Bogen fertig ist, schiebt ein hydraulisches System den Dom über die Atomruine: auf teflonbeschichteten Keramikplatten, rutschig wie Schmierseife.

Mit einer luftdichten Membran schottet der Dom die Ruine von der Umwelt ab. Damit keine radioaktiven Partikel entweichen, herrscht im Innern Unterdruck. Der Dom soll schweren Tornados und Erdbeben standhalten, ebenso dem Einsturz des alten Sarkophags. Für hundert Jahre soll er stehen. Und das ist ein Problem: «Rost», deutet Koordinator Brytan an. Wegen der Strahlung dürfen die Arbeiter die Stahlträger niemals neu bemalen. Darum sorgt ein Belüftungssystem zwischen einer inneren und der äusseren Schutzhülle dafür, dass die Luftfeuchtigkeit nie über 40 Prozent ansteigt.

Der gigantische Bau ist auch eine Maschine: Ferngesteuerte Kräne bauen ab 2017 den alten Sarkophag zurück. Und irgendwann, so die Idee, sollen sie auch die nukleare Lava entsorgen. Es wird Jahrzehnte dauern. Und wie, weiss niemand so genau. Noch existiert keine Technologie dafür. Der Direktor des Kraftwerks, Igor Gramotkin (50), hofft, dass sie irgendwann erfunden wird. «Der Sarkophag verbessert zwar die Sicherheit», sagt er. «Garantiert ist sie nicht.» Völlig offen ist zudem, wer den Rückbau finanzieren soll. «Wir müssen das sobald wie möglich diskutieren», sagt Gramotkin. Die Ukraine, von Krieg und Wirtschaftskrise gebeutelt, dürfte überfordert sein.

Schon das Geld für den Bau aufzutreiben, war schwierig. 40 Staaten zahlten insgesamt 2,1 Milliarden Euro. Darunter 14,4 Millionen Franken die Schweiz. Aber der Bau wurde teurer als geplant, noch immer fehlen 100 Millionen Euro. Sie sollen an einer Geberkonferenz der G7-Staaten Ende April zusammenkommen.

«Ohne die internationale Gemeinschaft wäre der Bau nie möglich gewesen», sagt Direktor Gramotkin. Dennoch macht er sich Sorgen, dass die Welt Tschernobyl bald vergisst. «Dabei haben wir hier noch lange nicht aufgeräumt.» Möglich also, dass sich Ingenieure in wenigen Jahrzehnten ein weiteres Mal den Kopf zerbrechen, wie sie den Dom ersetzen können: mit dem nächsten Grab für Tschernobyl.

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