Warum kam es zum Völkermord?
Der Abschuss des Flugzeugs mit dem ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, einem Hutu, war der Startschuss zum Genozid.
Mit an Bord an jenem 6. April 1994 war auch der burundische Präsident Cyprien Ntaryamira. Den Tutsi gab man die Schuld am Tod des ruandischen Präsidenten. Angefeuert wurden die Täter auch von Radiojournalisten. Sie bezeichneten die Tutsis unter anderem als Kakerlaken. Das Massaker war jedoch von langer Hand vorbereitet.
Die Weltgemeinschaft schritt zunächst nicht ein. Im Gegenteil: Die Uno-Truppen im Land wurden nach der Ermordung belgischer Blauhelme stark verringert und französischen Truppen wurde zu grosse Nähe zu den Tätern vorgeworfen.
Vom Rebellen zum Präsidenten
Das Morden zu stoppen gelang primär der von Tutsi im Exil in Uganda gegründeten Patriotischen Front Ruandas (FPR). Diese wurde vom heutigen Präsidenten Paul Kagame geführt. Im Sommer 1994 ergriff die FPR die Macht.
Der 1957 geborene Kagame hatte Ruanda als Kind mit seiner Familie verlassen. 1959 flohen viele Tutsi, die einst die Oberschicht in Ruanda gebildet hatte, ins Ausland. Sie wurden bei einem Aufstand der Hutu-Mehrheit entmachtet. Seit 1965 war Ruanda praktisch ein Einparteienstaat der Hutus.
Reformen unter neuem Staatsoberhaupt
Direkt nach dem Morden wurde Kagame am 19. Juli 1994 Vizepräsident Ruandas. Seit 2000 herrscht er als Präsident autoritär über den ostafrikanischen Staat. Menschenrechtler werfen der FPR vor, Tausende Zivilisten getötet zu haben, als sie im Sommer 1994 an die Macht kam. Zwei Millionen Ruanderinnen und Ruander, mehrheitlich Hutus, flohen während und nach dem Genozid ins Ausland - unter anderem nach Kongo und Tansania.
Präsident Kagame schaffte die ethnischen Kategorien Hutu, Tutsi und Twa (Jäger und Sammler) ab. Alle haben sich als Ruander zu bezeichnen. Kritiker sagen, dass jedoch bis heute jeder wisse, wer zu welchem Stamm gehört.
Gerichte versuchen Vorfälle aufzuarbeiten
Wenige Monate nach dem Massenmord in Ruanda beschloss der Uno-Sicherheitsrat im November 1994 die Einrichtung des Internationalen Tribunals für Ruanda (ICTR). Anfang 1995 nahm es seine Arbeit auf in Arusha, einer Stadt im Norden Tansanias.
Das Gericht wurde Ende 2015 nach 21 Jahren aufgelöst. ICTR und das Jugoslawien-Tribunal (ICTY), das seit 1993 existierte, waren seit den Nürnberger und Tokioter Prozesse die ersten internationalen Gerichte zur Verfolgung von Kriegsverbrechern.
Das ICTR hatte 93 Personen angeklagt. Das Ruanda-Tribunal war 1998 das erste internationale Strafgericht, das einen Angeklagten wegen Völkermord verurteilte. Ein ruandischer Bürgermeister wurde wegen Anstachelung zu systematischer Vergewaltigung von Tutsi-Frauen des Völkermordes für schuldig gesprochen.
Insgesamt kam es zu 61 Schuldsprüchen. Unter den Verurteilten waren Militärchefs, Lokalpolitiker, Verwaltungschefs und Journalisten, die zum Beispiel übers Radio zum Morden angestiftet hatten.
In den Dörfern wurde zudem versucht, in traditionellen Gerichten, sogenannten Gacacas, Recht zu sprechen. Diese Gerichte hätten jedoch nicht wirklich zur Versöhnung der Volksgruppen beigetragen, so die Kritik von Menschenrechtsorganisationen.
1999 ernannte der Uno-Sicherheitsrat die Schweizer Juristin und Diplomatin Carla Del Ponte zur Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda.
Zwischen der ruandischen Regierung und Carla Del Ponte kam es jedoch wiederholt zu Auseinandersetzungen, als diese gegen Angehörige der FPR ermitteln wollte, der Partei Kagames.
Nicht nur die ruandische Regierung wehrte sich gegen die Vorwürfe Del Pontes, im Uno-Sicherheitsrat machten sich auch die USA und Grossbritannien stark gegen die Tessinerin. Im August 2003 wurde Del Ponte durch den gambischen Richter Hassan Bubacar Jallow ersetzt.
Wer gab den Befehl zum Abschuss?
Auch in anderen Staaten kam es zu Ermittlungen. Massive Vorwürfe gegen die FPR wurden von einem französischen Juristenteam unter Leitung von Richter Jean-Louis Bruguière erhoben: Sie beschuldigten den heutigen ruandischen Präsidenten und früheren Guerillaführer Kagame, 1994 den Befehl zum Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana gegeben zu haben.
Zudem wurden sieben Vertraute des Präsidenten Kagame angeklagt. Die Ermittlungen in Frankreich waren 1998 aufgenommen worden, da bei dem Angriff auch der französische Pilot der Maschine ums Leben kam.
Eine ruandische Kommission kam 2009 zum Schluss, dass Hutu-Extremisten für den Anschlag auf Habyarimana verantwortlich waren. Die Regierung in Kigali wirft Frankreich ihrerseits vor, ruandische Armeeeinheiten ausgebildet zu haben, die sich später am Völkermord beteiligten.
Ende 2018 stellte Frankreich die Ermittlungen ein, da die Beweise unzureichend seien.
Papst Franziskus entschuldigt sich bei Ruanda
Im März 2017 hatte sich Papst Franziskus für die Rolle der katholischen Kirche beim Völkermord in Ruanda entschuldigt. Bei einem Besuch des ruandischen Präsidenten Kagame in Rom bat der Papst um Gottes Vergebung für die «Sünden und Fehler der Kirche». Diese hätten «das Gesicht der Kirche entstellt».
Nach dem Genozid flossen Milliarden nach Ruanda. Von den heute 12 Millionen Einwohnern leben knapp 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind 24 Jahre alt und jünger. (SDA)