In den nächsten Tagen werde der Bundesrat über das weitere Vorgehen entscheiden, versprach Aussenminister Ignazio Cassis am Donnerstag im Ständerat. Vielleicht ist es diesen Freitag soweit, vielleicht auch erst in einer Woche.
Der Bundesrat handelt unter dem Druck der EU. Brüssel verlangt seit Jahren einen institutionellen Rahmen für die Marktzugangsabkommen. Dabei geht es um die Übernahme neuen EU-Rechts, die Überwachung der Anwendung, die Auslegung und die Streitbeilegung.
Mitte Oktober hatte die EU-Kommission festgestellt, dass es zwar Fortschritte, aber keinen Durchbruch gebe. Auch der Bundesrat konnte bisher keinen Verhandlungserfolg vermelden. Über ein Schiedsgericht zum Beispiel oder über die Anwendung auf lediglich fünf Marktzugangsabkommen scheinen sich die beiden Seiten zwar verständigt zu haben.
Doch bei den flankierenden Massnahmen sind die Fronten verhärtet. Die Gewerkschaften wollen verhindern, dass die EU via Schiedsgericht beim Lohnschutz mitreden kann. Ausserdem verlangt Brüssel offenbar eine kürzere Voranmeldefrist, weniger Kontrollen und Abstriche bei der Kautionspflicht.
Ein Einlenken der Gewerkschaften zeichnet sich nicht ab - trotz Schlichtungsversuchen in letzter Minute. Der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner hatte als Gewerkschaftsbunds-Präsident bereits Einblick in das Verhandlungsergebnis. Er beurteilt dieses als "schlicht katastrophal".
Brüssel möchte auch, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernimmt, welche die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU regelt. Das wiederum wäre für die bürgerlichen Parteien nicht akzeptabel. Eine Lösung zeichnet sich unmittelbar vor dem Showdown nicht ab.
Bei dieser Ausgangslage hat der Bundesrat mehrere Möglichkeiten. Er kann dem Verhandlungsergebnis zustimmen, ohne es zu unterzeichnen. Er kann es auch unterzeichnen und dem Parlament zur Genehmigung vorlegen. Beide Wege würden der Schweiz etwas Zeit verschaffen. Nach den eidgenössischen Wahlen, den Wahlen in der EU und dem Brexit könnten frische Teams einen neuen Anlauf nehmen, falls sich das Rahmenabkommen als nicht mehrheitsfähig erweist.
Problematisch ist, dass der Bundesrat diesen Richtungsentscheid noch in alter Zusammensetzung fällen muss. Daher hält er es möglicherweise für ratsam, auf Zeit zu spielen: Er kann die Verhandlungen trotz ausbleibender Einigung fortsetzen oder sie bis nach dem Wahljahr auf Eis legen. Als letzte Option kann der Bundesrat die Reissleine ziehen und die Verhandlungen für gescheitert erklären.
In allen drei Fällen drohen Konsequenzen. Mit dem Abschluss neuer Abkommen oder der Aktualisierung der bestehenden dürfte die Schweiz vorläufig nicht mehr rechnen. Als unmittelbare Reaktion droht die EU der Schweiz die definitive Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer Börsenregulierung zu verweigern.
Diese gilt derzeit provisorisch bis Ende Jahr. Am Mittwoch war bekannt geworden, dass die EU-Kommission offenbar nicht plant, die Anerkennung zu verlängern. Als Grund gab EU-Vizekommissionspräsident Valdis Dombrowskis in einem Brief die fehlenden Fortschritte in den Verhandlungen mit der Schweiz an.
Falls die Äquivalenzanerkennung für 2019 ausbleibt, drohen der Schweizer Börse grosse Verluste. Der Bundesrat hat daher angekündigt, per Notrecht Plan B zu aktivieren, sofern bis am 30. November keine definitive Anerkennung vorliegt. Die Frist läuft am Freitag ab.
Der Bundesrat plant, eine Anerkennungspflicht für ausländische Handelsplätze einzuführen, die mit Schweizer Aktien handeln. Die EU-Börsen würden nicht anerkannt. Dort dürften keine Schweizer Aktien mehr gehandelt werden. Das soll verhindern, dass der Handel mit Schweizer Aktien im grossen Stil ins europäische Ausland abwandert.
Gerade für SMI-Unternehmen sei der Handel in der Schweiz wichtig, zeigte sich Finanzminister Ueli Maurer überzeugt, als er seinen Plan im Juni öffentlich machte. Diese müssten sich dann entscheiden, ob ihre Aktien in der Schweiz oder in der EU gehandelt werden sollen. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen Abzug aus der Schweiz. Heute werden rund ein Drittel der Schweizer Aktien im Ausland gehandelt.
Das Hauptziel der Massnahme ist laut Finanzdepartement jedoch ein anderes: Es gilt, den Handel mit Schweizer Aktien in der EU markant zu reduzieren. Sofern Schweizer Aktien nicht "systematisch und regelmässig" an EU-Handelsplätzen gehandelt werden, benötigt die Schweizer Börse nach EU-Recht keine Äquivalenzanerkennung. Die Handelsteilnehmer aus der EU könnten weiterhin in der Schweiz handeln, ohne EU-Recht zu verletzten.
Ob sich Brüssel im Fall einer Eskalation an diese Interpretation gebunden fühlt, ist ungewiss. Unklar ist auch, ob die Schweiz ihre Anerkennungspflicht durchsetzen könnte. Doch der Bundesrat hat keine andere Wahl, als hoch zu pokern. Laut Maurer könnte das Handelsvolumen an der Schweizer Börse von heute rund 1300 Milliarden Franken ohen Gegenmassnahmen um 70 bis 80 Prozent einbrechen.