Am Freitag schloss Manor seine Filiale an der Zürcher Bahnhofstrasse. Migros will das Glattzentrum in Wallisellen ZH verkaufen – den grössten Einkaufstempel der Schweiz. Und neuste Zahlen zeigen: Die Umsätze im Detailhandel sinken weiter.
Die Branche steckt in der Krise. Ausbaden müssen es die Angestellten, wie SonntagsBlick letzte Woche berichtete. Die Unternehmen widersprachen: Bei ihnen stehe das Wohl der Mitarbeiter im Zentrum.
SonntagsBlick fragte bei zwei langjährigen Führungskräften nach: Haben die Verkäuferinnen übertrieben? «Nein», sagen die beiden. «Es ist noch viel schlimmer!»
Claudia Berger* (51) arbeitet seit 26 Jahren bei der Migros, davon zwölf als Fachleiterin Kasse und Kundendienst. Die Schilderungen der Verkäuferinnen erstaunten sie nicht – dafür das Statement der Migros, die sich als hochattraktive Arbeitgeberin bezeichnet. «Nein», widerspricht Berger, «die Migros ist keine gute Arbeitgeberin.»
Gleiches Arbeitsvolumen – weniger Mitarbeiterinnen
Als sie anfing, hatte sie 25 Mitarbeiterinnen unter sich. Heute sind es noch zehn. «Das Arbeitsvolumen ist aber nicht kleiner geworden», so Berger. «Bei immer längeren Öffnungszeiten müssen wir mit einem immer kleineren Team immer mehr Stunden abdecken.» Über zwanzig Jahre lang sei sie gerne zur Arbeit gegangen. Doch dann habe der Spardruck eingesetzt. «Der Druck auf die Angestellten steigt – bis die Leute krank werden.»
Die gleiche Entwicklung gebe es auch bei Ikea, sagt Stefan Hofer* (42), der zwölf Jahre beim schwedischen Möbelriesen tätig war, fünf davon als Teamleiter einer Filiale. Es habe gute Jahre gegeben, «aber mit dem Tod des Firmengründers wurde alles anders». Ikea-Boss Ingvar Kamprad starb im Januar 2018. Dann sei es zu massiven Umstrukturierungen gekommen, berichtet Hofer. «Es wurden reihenweise Leute entlassen, viele von ihnen waren seit über zwanzig Jahren dabei.»
Die verbliebenen Angestellten seien permanent überlastet und immer häufiger krank. Hofer: «Das Schlimmste ist, dass bei Krankheit und Unfällen der Angestellten kein Ersatz gestellt wird.» Dann müsse einfach mit weniger Leuten weitergearbeitet werden. Was viele Angestellte nicht wissen: «Wenn Mitarbeiter aufgrund von Stress am Arbeitsplatz erkranken und nicht mehr arbeiten können, haftet die Arbeitgeberin», sagt Arbeitsrechtsexperte Thomas Geiser (67).
An sechs Tagen 14 Stunden verfügbar
Mit der Unterdotierung gingen erhöhte Anforderungen an die Flexibilität einher, sagt Fachleiterin Berger. Alle Teilzeitangestellten ihrer Filiale müssten an sechs Tagen pro Woche von 6 bis 20 Uhr bereitstehen. «Die Tage sind lang. Unsere Angestellten sitzen bis zu elf Stunden an der Kasse.» Aber können sie nicht bei der Gestaltung der Einsatzpläne mitreden? Das Gesetz gesteht ihnen dieses Recht nämlich zu. «Nicht bei uns», sagt Berger. «Die Filialleitung bestimmt, wer wann arbeitet.»
Sie habe häufig bei der Filialleiterin interveniert. Die Antwort war immer gleich: «Wem es nicht passt, der kann gehen.» Stefan Hofer gesteht, er habe mehrmals weinend im Personalbüro von Ikea gestanden. Auch er bekam immer dieselbe Antwort: «Wir müssen sparen!» Seine Bemühungen waren erfolglos. «Wir blieben notorisch unterbesetzt.»
Es sind unterschiedliche Perspektiven, die da aufeinanderprallen. «Die höheren Kader schauen auf die Wirtschaftlichkeit», sagt Arbeitspsychologe Stefan Heer. «Die direkten Führungskräfte schauen auf die Menschen.» Darauf zu verweisen, man könne ja kündigen, sei allerdings zynisch. «Gerade im Detailhandel arbeiten viele Leute, die gar keine Alternative haben.»
Verkaufschef hört nicht zu
Was kann man da als Führungskraft noch tun? Sie versuche täglich, ihre Mitarbeiterinnen zu motivieren, sagt Claudia Berger. «Und natürlich suche ich immer wieder das Gespräch mit dem Verkaufschef.» Bei dem aber stosse sie auf taube Ohren. «Er schützt die Filialleiterin vor jeglicher Kritik.»
Die wiederum lasse das Personal spüren, wer das Sagen habe. «Sie kritisiert unsere Angestellten regelmässig vor der Kundschaft auf eine absolut herabwürdigende Art und Weise. Im Haus herrscht dauernd Angst davor, wer als Nächstes drankommt.»
Mit ihrem herabwürdigenden Verhalten gegenüber den Mitarbeitenden macht sich die Filialleiterin unter Umständen gar strafbar: Achtet und schützt sie die Persönlichkeitsrechte ihrer Mitarbeitenden nämlich nicht, verletzt sie ihre Fürsorgepflicht.
Keine Frage, die Krise im Detailhandel setzt Unternehmen unter Druck. Und doch sagt der Jurist Thomas Geiser: «Spardruck erlaubt nicht, die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer zu missachten, und ist kein Grund, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu gefährden.»
Ikea bestätigt, dass sich das Unternehmen seit vergangenem Jahr in einem Transformationsprozess befindet. «Offensichtlich ist es uns dabei nicht gelungen, jeden Mitarbeitenden abzuholen. Das bedauern wir.» Migros will zum konkreten Fall nicht Stellung nehmen, teilt aber mit: «Falls dies tatsächlich so vorgefallen sein sollte, würde dies klar den bei der Migros gelebten Werten widersprechen.»
* Namen geändert
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