Der heute 37 Jahre alte Mann verlor infolge der unheilbaren Nervenerkrankung ALS (amyotropher Lateralsklerose) seine Sprache. Bei klarem Verstand, war er in seinem wachen Geist gefangen. Patienten wie er im sogenannten «Completely Locked-in»-Stadium haben auch keine Kontrolle mehr über ihre Augenbewegungen, weshalb andere Kommunikationshilfen versagen. Denn eine Möglichkeit ist, mit Kameras die Augenbewegung aufzeichnen und diese mit einer Software in Sprache zu übersetzen. Ein solches System nutzte etwa der berühmte Physiker Stephen Hawking.
Nun berichtet ein internationales Forschungsteam unter Co-Leitung von Jonas Zimmermann vom «Wyss Center of Bio‐ and Neuroengineering» in Genf, dass der Studienteilnehmer mit einer sogenannten Hirn- Computer-Schnittstelle (kurz BCI) auf Satzebene zu kommunizieren lernte. Invasive BCIs sind kleine, im Gehirn chirurgisch implantierte Geräte, die mit Elektroden Hirnströme aufzeichnen und in Steuersignale umwandeln.
Wie die Forschenden in der am Dienstag veröffentlichten Studie schreiben, konnte der Patient nach rund hundert Tagen seine Bedürfnisse äussern. Am Tag 251 fragte er beispielsweise an seinen Sohn gewandt, ob er mit ihm den Disneyfilm Robin Hood schauen wolle.
Um Wörter und Sätze zu bilden, lernt der Computer, den Feuerraten der Neuronen in der Hirnregion des motorisches Kortex ein «Ja» und «Nein» zuzuordnen. Indem ein Programm laut Buchstaben vorliest, konnte der Studienteilnehmer bejahen oder verneinen, ob er den entsprechenden Buchstaben verwenden möchte. So gelang es ihm, im Schnitt ein Zeichen pro Minute zu bilden.
Die Fallstudie liefere den Beweis, dass willentliche Kommunikation selbst für völlig in ihrem Geiste isolierte Menschen möglich sei, schliessen die Forschenden.
Zimmermann dämpft jedoch die Erwartungen: «Es handelt sich um einen Konzeptbeweis mit einem einzigen Patienten», sagt der wissenschaftliche Leiter des Projekts im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Ziel sei, eine klinische Studie mit mehr Patienten aufzugleisen, wofür man derzeit neue Elektroden-Implantate entwickle, die komplett einwachsen würden. In prä-klinischen Tierstudien soll die Sicherheit eines solchen Implantats geprüft werden.
Das beim ALS-Studienteilnehmer verwendete ist über einen Stecker und ein Kabel mit dem Computer verbunden. «Der Stecker stellt ein Infektionsrisiko dar, weil die Wunde ständig offenbleiben muss», sagt Zimmermann.
In nicht allzu ferner Zukunft könnten Hirn-Computer-Schnittstellen vielen ALS-Patienten helfen. Dieser Meinung ist Anne-Lise Giraud Mamessier. Die an der Universität Genf und dem Institut de l’Audition in Paris tätige Neurowissenschaftlerin war nicht an der Studie beteiligt. Bis es soweit sei, seien aber noch einige technologische Hürden und solche zur besseren Dekodierung von Sprachabsichten zu überwinden.
Auch bestehe eine Schwierigkeit darin, genügend erfolgreiche Konzeptnachweise zu erbringen, um Patienten davon zu überzeugen, sich einer Hirnoperation zu unterziehen. So betont auch sie die Wichtigkeit der Elektroden. «Sie sollten so sicher wie möglich sein und eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für Infektionen und Hirnschäden aufweisen», so Giraud Mamessier.
Neben Jonas Zimmermann zählen auch die deutschen Hirnforscher Niels Birbaumer und Ujwal Chaudhary zu den Studienleitern. Birbaumer und Chaudhary publizierten bereits im Jahr 2017 eine Studie, wonach vier ALS-Patienten kommunizierten lernten - mithilfe einer Sensoren bestückten Kopfhaube. Die Studie wies jedoch erhebliche Mängel auf, das Fachmagazin «Plos Biology» zog sie schliesslich zurück. Den Forschern wurde massives wissenschaftliches Fehlverhalten vorgeworfen, das bislang nicht entkräftet werden konnten.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) schloss Birbaumer für fünf Jahre, Chaudhary für drei Jahre von jeder Gutachtertätigkeit sowie Antragsberechtigung aus. Während Chaudhary dies akzeptierte, hatte Birbaumer 2020 Klage dagegen eingereicht. Das Rechtsverfahren stehe unmittelbar vor dem Abschluss, man werde wohl in Kürze über den Ausgang informieren können, teilte die DFG auf Anfrage mit.
Dem Verlag Springer Nature zufolge, der die aktuelle Arbeit publizierte, sind die wissenschaftlichen Begutachter der Studien aufmerksam gegenüber Kontroversen in den einzelnen Fachgebieten. Entsprechend sorgfältig gingen sie vor. Aus Gründen der Vertraulichkeit könne man sich aber nicht zum redaktionellen Werdegang einzelner Beiträge äussern, schrieb eine Sprecherin auf Anfrage.
Die Neurowissenschaftlerin Giraud Mamessier weist darauf hin, dass andere Studien gezeigt hätten, dass eine Dekodierung von binären Entscheidungen - also «Ja»- und «Nein»-Aussagen - möglich sei. Die vorgefallene «Episode» habe ihre Meinung gegenüber Birbaumers Forschung nicht geändert, ebenso wenig wie ihre Meinung über seinen «aufrichtigen Willen, Lösungen zur Verbesserung der Lebensqualität von Locked-in-Patienten zu finden». Die Ergebnisse der vorliegenden Studie erachtet sie als «sehr plausibel».
https://www.nature.com/articles/s41467-022-28859-8
(SDA)
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