Es ist ein Mauerblümchen der besonderen Art. Angeschmiegt an eine Stützmauer, wächst es am Fusse des Calanda seinem Zerfall entgegen. Im Dorf hat es eine gewisse Bekanntheit erlangt. Ansonsten haben nur wenige Glückliche davon erfahren, mittels Postkarte oder eines Films. Es ist weitherum einzigartig, das Gartenklavier von Haldenstein.
«Eines Tages verspürte ich den Wunsch nach einem Klavier im Garten», sagt Peter Conradin Zumthor. «Andere haben Gartenzwerge.» Er macht eine Kunstpause und setzt dann sein schelmisches Lächeln auf. Bei einem Instrumentenbauer im Baselbiet fand sich ein passendes Instrument, das dieser sogleich ins Churer Rheintal transportierte. Zumthor, der international als Schlagzeuger bekannt ist, sehr gerne aber klassische Pianomusik hört, war zufrieden.
Ähnlich reagierte seine Partnerin, die Pianistin Vera Kappeler, die sich sogleich ans besonnte Klavier setzte. Das Instrument war frisch gestimmt, und Zumthor filmte sie dabei. Wenig später wiederholten sie das Setting, dann nochmals - bis aus der spontanen Aktion eine Idee erwuchs und schliesslich das Video «Gartenklavier», das heute als USB-Stick im Kunstmuseum Chur aufliegt und reissenden Absatz findet. Vera Kappeler spielt 16 Minuten lang Chopin - winters und sommers, bei Wind und Wetter. Klavier und Chopin klingen gleichsam saisonal - und altern hörbar.
Mit Aktionen wie dieser haben sich Kappeler/Zumthor einen klingenden Namen gemacht. Als Musikschaffende spielen sie auch Theater, kuratieren Ausstellungen oder bringen verborgene Räume zum Klingen. So geschehen an der Arte Albigna im Sommer 2017, als sie in die Mauer des Stausees luden. «Wir musizierten in einem Hohlraum mit Schlagzeug, Harmonium und Gesang», erzählt Kappeler. «Der Sound schoss durch die ganze, 700 Meter breite und 90 Meter hohe Mauer», ergänzt Zumthor. «Das Publikum wanderte diese Strecke ab, eingehüllt in unsere Musik.»
Einen Berg bespielt hatte das Duo bereits fünf Jahre zuvor, als es von Giovanni Netzer für das Origen Festival engagiert wurde. Zumthor: «Wir hatten nur zwei Vorgaben: eine Kaverne als Auftrittsort und das Festivalthema Babylon.» Die Vorbereitungen waren schwierig. Vera Kappeler: «Wir konnten nur kurz im Berg proben, weshalb wir die Akustik antizipieren mussten.» Das Resultat überzeugte: An einem der Konzerte war Manfred Eicher zugegen, Chef des Münchner Labels ECM. Und so erschien die «Babylon-Suite» von Kappeler/Zumthor 2014 als ECM-CD. Im Juli 2018 bespielen Kappeler/Zumthor den Origen-Turm auf dem Julierpass.
Auch wenn sie ein «normales» Konzert geben, bringen Kappeler/Zumthor ihr Publikum zum Staunen, wie im Januar 2018 in der Postremise Chur. Die Tribüne im hohen Saal war rappelvoll, das Konzert ein Riesenerfolg. «Wir achten darauf, unser Churer Heimpublikum nicht allzu oft zu beglücken», lacht Zumthor. Kappeler und Zumthor spielten nebst Flügel und Drumset auch Harmonium oder Toypianos, Spieldosen und Rasselbüchsen. So erklangen überraschende Sounds und buchstäblich unerhörte Geräusche, inszeniert als effektvolle Choreographie.
«Wir wollen Geschichten erzählen», betont Vera Kappeler. Oft gehe sie von inneren Bildern aus, die sie dann musikalisch umzusetzen versuche. Das seien längere Prozesse, ergänzt Peter Conradin Zumthor: «Die Inspiration kann man nicht erzwingen. Die kommt, wann sie will.» - «Wir beide können uns nicht einfach hinsetzen und ein neues Programm schreiben», erklärt Kappeler. Ihre Ideen nehme sie auf und reiche sie Zumthor weiter - und umgekehrt. Der oder die andere suche nach Ergänzungen, Untermalungen, einem Kontrapunkt. «Dann experimentieren wir gemeinsam mit Tempi, Lautstärken oder Reduktion», sagt Zumthor. «Oder wir suchen nach speziellem Material: Klangschalen, Blechen, Spielzeugen.»
So haben sich die beiden auch kennengelernt. Bekannt gemacht durch einen Freund, habe man gemeinsame Interessen entdeckt. «Wir schickten uns dann Ideen hin und her», sagt Kappeler. «Es entstand ein erstes Duo-Programm.» 2012 zog Vera Kappeler von Winterthur, wo sie lange gelebt und ursprünglich studiert hatte, nach Haldenstein.
Die Grenzlage am Rhein hat fast symbolischen Charakter. Denn aus Grenzen machen sich die 44-jährige Pianistin und der 39-jährige Schlagwerker nichts. Sie sind stets mitten im Geschehen und haben das reine Musikmachen - Zumthor Rock, Jazz und alles dazwischen, Kappeler Klassik, Jazz und Folklore - abgestreift.
Ihre Geschichten reichern sie an mit Geräuschen, Bildern, Gesten. Dies in Konzerten und multimedialen Projekten. Kurz nach ihrer Begegnung entstand das Programm «Werwolf Sutra“ mit dem ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch. Es folgten Theaterarbeiten mit Jürg Kienberger. »Auf der Theaterbühne kann ich auch mal singen oder gleichzeitig auf Schlagzeug und Kontrabass spielen«, sagt Zumthor.
Vera Kappeler lächelt: »Unsere Verspieltheit hat uns viele schöne Projekte beschert.« Kappeler hat im Kunstmuseum Chur eine Ausstellung zum Maler Andreas Walser mit einem multimedialen Rahmenprogramm kuratiert. »In Chur haben wir auch das Geläut des Martinsturms präpariert«, erzählt Zumthor. Das hat Einladungen zum Glockenbändigen ans Berner Münster oder an das renommierte Festival für Neue Musik in Rümlingen BL nach sich gezogen.
»Man hat halt viele Interessen, die nicht nur mit Musik zu tun haben«, lacht Peter Conradin Zumthor und erwähnt sein nächstes Projekt: eine in Kolophonium eingegossene Geige. Dieses schalkhaft inszenierte Festhalten von Musik fasziniert Vera Kappeler: »Musik ist flüchtig. Objekte aber, Bilder und Fotos bleiben. Ein Gegensatz, der uns sehr interessiert.«
Immer wieder gehen die beiden auch eigene Wege. Zumthor bereitet sich auf einen intensiven Sommer in Luzern vor. Engagiert vom Basler Perkussionisten-Kollegen Fritz Hauser, der 2018 Artist in Residence des Lucerne Festivals ist, wird er dort verschiedene Konzerte spielen. Vera Kappeler sitzt gerade an Auftragswerken für Chöre und erarbeitet mit der Sopranistin Irina Ungureanu ein Theaterstück.
Das Haldensteiner Gartenklavier übrigens hat seine Klangseele fast verloren. Wind und Wetter sind daran, das Instrument auseinander zu zerren. Gleich daneben aber steht ein gänzlich anderes Objekt, das Kappeler und Zumthor zu gemeinsamen Aktionen herausfordert. Ein Ping-Pong-Tisch. »Wenn kein Föhn bläst, spielen wir fast täglich«, sagt Zumthor. »Das Spiel lenkt ab, inspiriert aber auch«, weiss Kappeler. »Wir könnten ja mal was mit Ping-Pong-Bällen und Selbstschussmaschinen machen«, schlägt er dann vor. Und sie fängt sofort Feuer: »Genau, als Schlagkörper auf Klangflächen oder Becken." Und schon sprudeln die Ideen.
Verfasser: Frank von Niederhäusern, sfd