Mit Joyce Carol Oates hat das NIFFF einen prominenten Gast. Die Autorin gilt seit Jahren als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis. Aber auch für sie selbst ist diese Einladung etwas Besonderes: Sie ist zum ersten Mal in der Schweiz.
«Ich freue mich, hier zu sein, vor allem, weil die Schweiz ein zivilisiertes Land ist», sagte sie am Donnerstag auf der Bühne des Théâtre du Passage. Das sei bemerkenswert für sie, die in den USA lebe, «vor allem seit 2016 mit diesen schrecklichen Präsidentschaftskampagnen und einer zunehmend polarisierten Gesellschaft.»
Darüber hinaus verriet sie, es sei auch das erste Mal, dass sie in einer Filmjury sitze: «In meinem Alltag sehe ich vielleicht einen Film pro Woche, über den ich tagelang nachdenke. Bei einem Filmfestival ist das viel intensiver, eine völlig neue Erfahrung für mich.»
Oates hat seit 1963 rund vierzig Romane, dazu Jugendbücher, Theaterstücke, Kurzprosa, Lyrik, Essays wie Biografisches publiziert. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Im deutschen Sprachraum hat sie beispielsweise mit ihrer fiktionalen Biografie über Marilyn Monroe unter dem Titel «Blond» (2000) für Aufsehen gesorgt. Die Verfilmung soll ab 23. September auf Netflix zu sehen sein.
Oates' Werk ist ausgesprochen vielseitig, ihre Themen sind sowohl realistisch-sozialkritisch als auch fantastisch. Thriller und Kriminalromane veröffentlicht sie unter Pseudonym. Auf Twitter weiss sie 136'000 Follower für sich einzunehmen und mit ihren fast 84 Jahren lehrt sie «creative writing» an der Princeton University.
«Hier am NIFFF verwendet jeder der Filme Elemente des Fantastischen, um die reale Welt zu beleuchten», so Oates. Manchmal werde das Fantastische gar «zu einem Mittel der Erziehung», wie in Kathryn Bartons Film «Blaze», der dieses Jahr in Neuenburg gezeigt wurde.
Darin beschwört ein junges Mädchen einen imaginären Drachen, der sie beschützen soll, nachdem sie Zeugin eines abscheulichen Verbrechens geworden ist: «Dieses Mädchen könnte am Erlebten zerbrechen, aber sie schöpft Kraft aus der imaginären Welt.» Oates findet, dass gerade solche Elemente das NIFFF interessant machten: «Fantastische Elemente werden kreativ eingesetzt, um eine Anpassung an die reale Welt zu ermöglichen.»
So geht Oates auch in ihrer literarischen Arbeit vor: «Ich analysiere die Komplexitäten der Welt, indem ich Techniken wie das Fantastische, Träume sowie Elemente, die die Erfahrung der Realität zu vertiefen scheinen, einsetze. Das Fantastische alleine wäre nur eine Flucht»
Als Beispiel für diese Vorgehensweise führt sie «Blond» (orig. «Blonde") an. Oates thematisiert in dem Roman das Leben von Norma Jeane Baker, einem zu Beginn normalen amerikanischen Mädchen, die als Marylin Monroe zur Ikone aufstieg.
«Norma Jeane sollte diese Rolle spielen; sie verschwand hinter Marilyn Monroe und wurde zur verzweifelten Frau. Ich konzentrierte mich auf dieses sehr hübsche junge Mädchen, das von der Filmindustrie vereinnahmt wurde», sagt Oates. «Ich betrachtete sie als ein Phänomen der Arbeiterklasse, als ein Mädchen, das zum Produkt wird und seine eigene Identität verliert.»
Oates hat sich die Verfilmung ihres Buches in der Regie von Andrew Dominik angesehen: «Es gelingt ihm, Norma Jeane Bakers Erfahrungen aus ihrer eigenen Perspektive zu zeigen, ohne den 'male gaze', den Blick eines Mannes auf eine Frau, zu reproduzieren.»
Die 21. Ausgabe des NIFFF endet am Sonntag (9. Juli) mit der Schweizer Premiere des Animationsfilms «I am what I am» von Sun Haipeng. Der mit 10'000 Franken dotierte H.R. Giger-Preis «Narcisse» wird anlässlich dieser Abschlusszeremonie verliehen.
Und Joyce Carol Oates wird am Montag wieder abreisen. Die mehrfache Pulitzer-Preis-Finalistin, fünffache Bram-Stoker-Preisträgerin und Trägerin des Cino Del Duca Weltpreises für ihr Lebenswerk möchte zuvor Neuenburg, das H.R. Giger-Museum in Gruyères und die Region Genf besuchen, wie sie ihrem Publikum sagt.
(SDA)