So stand es jüngst in der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Wer geschichtliche Ereignisse politisch beurteilt, darf den Kontext nicht ausblenden». Gemeint waren die Enthüllungen aus den Folterverliesen der CIA.
Das NZZ-Zitat provoziert Fragen: Ist Folter ein «geschichtliches Ereignis»? Muss man Folter in einen «Kontext» stellen? Gibt es für Folter eventuell sogar mildernde historische und kontextuelle Umstände?
Wenn mächtige Menschen ohnmächtige Menschen quälen, indem sie diese zum Schein ertränken oder 180 Stunden am Schlafen hindern oder immer wieder gegen die Wand ihrer Zelle schleudern oder 266 Stunden in eine kleine Kiste pferchen oder sexuell erniedrigen oder zu analer Ernährung zwingen – dann gibt es weder Geschichtliches zu berücksichtigen, noch sind besondere Umstände in Rechnung zu stellen, bevor man ein Urteil darüber fällt.
Folter ist ein Verbrechen, welche Vorwände auch immer nachgeliefert werden.
Wäre es anders, müsste das Foltern von Gefangenen, von Frauen und Mädchen im Kindesalter, von Andersgläubigen durch die islamistischen Kämpfer in Syrien und im Irak in einen Kontext gestellt werden; sogar die Enthauptungen mit dem Schlachtermesser wären dann als Folge historischer Umstände zu beurteilen.
Diese Sichtweise aber ist nicht unsere, nicht die westliche, nicht die amerikanische.
Die zivilisierte Welt sieht es so: Unter George W. Bush und seinem Vizepräsidenten Dick Cheney trat Amerika Menschenrechte und Menschenwürde mit Füssen, weil es Menschen, die ihm ausgeliefert waren, mit Füssen trat. Menschen? Ja.
Terroristen sind im Folterkeller nur noch Menschen.
So erschütternd das Ganze ist, die Debatte über den folternden Geheimdienst hat auch ihr Gutes: Sie findet statt, die westliche Welt ist empört, aufgewühlt, wütend – die Politiker, die Publizisten, die Bürger.
Wo sonst wäre das so? In China? In Russland? Im Iran?
Die Frage stellen, heisst, sie beantworten: Nur die Kultur der Freiheit setzt sich mit ihren eigenen Untaten auseinander, oft spät, sogar zu spät, meist ungenügend, aber immer wieder.
Die Enthüllungen über die US-Folterer sind vielen ein willkommener Anlass, antiamerikanischen Emotionen freien Lauf zu lassen: «Haben wir nicht immer schon gesagt, dass die Supermacht nicht besser ist als jede andere Macht!» Uncle Sam lässt sich trefflich als verlogener Heuchler karikieren, wie im BLICK gerade zu sehen war. Es werden wohl auch wieder US-Fahnen brennen.
Und doch ist auch dieser Protest, dialektisch betrachtet, der gelebte Beweis für die Freiheitlichkeit der westlichen Welt – der amerikanischen Welt!
Ja, die Freiheits-Kultur ist voller Fehler, Verfehlungen, Verbrechen; die CIA-Folter ist nur der neuste Fall. Morgen folgt mit Bestimmtheit der nächste Skandal.
Der Skandal gehört zu den Wesensmerkmalen der offenen Gesellschaft: Es gibt ihn, weil die Gesellschaft offen ist, weil Freiheit herrscht. Er wird aufgedeckt, weil demokratische Institutionen ihre Aufgabe erfüllen, weil Öffentlichkeit hergestellt wird.
Der Skandal ist ein Kennzeichen des funktionierenden demokratischen Rechtsstaats. Eine Exklusivität der westlichen Zivilisation.
Welches autoritäre Regime, welche Despotie, welche Diktatur wird von Skandalen heimgesucht? Der einzige Skandal solcher Regime ist das Regime selbst.
Der aktuelle Skandal handelt von den Werten, die der amerikanischen und der europäischen Kultur zugrunde liegen: von den Menschenrechten und der Menschenwürde, beides unveräusserlich, beides in den CIA-Gefängnissen aufs Gravierendste verletzt.
Die Weltgeltung dieser Werte wird schon allein belegt durch den Schmerz des Menschen, wenn er gepeinigt wird: Die Schreie und die Tränen der Gefolterten sind auf dem ganzen Globus gleich, ob im Folterkeller der Islamisten oder der CIA.
Nur Herrscher und Täter beharren auf der Relativierung von Menschenrechten und Menschenwürde: Die islamische Kultur sei nun mal anders als die westliche, erklären die Mächtigen des Islam. Und Mächtige des Westens wie Bush und Cheney argumentieren, angesichts der Terrorgefahr seien Menschenrechte und Menschenwürde sekundär.
Dabei ist es doch ganz einfach: Jedes Menschlein wird geboren als unverwechselbares Wesen; keines wie das andere; und deshalb jedes von gleichem Wert; jedes angewiesen auf Fürsorge und Freiheit, damit es sich zur unverwechselbaren Person entwickeln kann.
Wie sieht die Gesellschaft aus, die der Einmaligkeit eines jeden Menschen gerecht wird? Sie fusst auf Recht und Freiheit. Ihre politische Vollendung findet sie in Rechtsstaat und Demokratie.
In der Zeit des Advents ist es ein Trost – und Grund zur Hoffnung: Die westliche Kultur besinnt sich erneut auf die westliche Kultur. Die auch auf einer zweitausend Jahre alten Erkenntnis gründet:
«Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!» So sprach Jesus (Matthäus 25, 40).
Ja, der Terrorist, gefangen und geschlagen und gequält, ist einer seiner Brüder.